In meinem langjährigen Berufsleben als Diplomat hatte ich keinen Anlass, mich für die Politik meiner Regierung zu schämen. Heute könnte ich das nicht mehr behaupten, wenn ich lese, dass die Bundesregierung durch einen Beschluss des Berliner Verwaltungsgerichts daran erinnert werden musste, dass sie an bereits erteilte Zusagen gebunden und verpflichtet ist, einer im Bundesaufnahmeprogramm der Bundesregierung befindlichen afghanischen Wissenschaftlerin und ihrer Familie das Visum zu erteilen.
Die Regierung wollte die afghanische Familie trotz der Aufnahmezusage nicht in Deutschland aufnehmen. Dies sei rechtswidrig, entschieden die Richter, die Regierung müsse die zugesagten Visa erteilen.
Der Rache der Taliban ausgeliefert
Nur zur Erinnerung: Einer der großen Kritikpunkte des überstürzten Abzugs Deutschlands aus Afghanistan war, dass ehemalige Mitarbeiter der deutschen Streitkräfte und NGOs zurückgelassen und schutzlosder Rache der Taliban ausgeliefert wurden. Das Aufnahmeprogramm der Ampelkoalition sollte das nach Möglichkeit wieder gutmachen. Dafür musste diese Personengruppe nach einer erfolgreichen Prüfung in Afghanistan selbst und einer Zusage der Bundesregierung auf eigene Faust nach Pakistan reisen, wo eine restliche Sicherheitsüberprüfung vorgenommen werden sollte. Diese Überprüfung verlief aber so schleppend, dass auch nach zwei Jahren die Hälfte dieser Menschen darauf wartet, ausgeflogen zu werden. Sie läuft jetzt Gefahr, von den pakistanischen Behörden wieder nach Afghanistan abgeschoben zu werden.
Zweifel an der Vertragstreue
Es ist schon beschämend genug, dass die neue Bundesregierung glaubte, die Zusagen des Aufnahmeprogramms der alten Bundesregierung nicht honorieren zu müssen. Wenn das Schule macht, sät es in letzter Konsequenz Zweifel an der Vertragstreue der Bundesregierung. Denn ein Vertrag ist nichts anderes als eine in Schriftform gegossene mündliche Zusage. Wer glaubt, mündliche Zusagen nicht einhalten zu müssen, verliert Vertrauen.
Noch erschreckender ist aber die Reaktion des außenpolitischen Sprechers der Unionsfraktion, Jürgen Hardt, der sagte, „Die Einzelfallentscheidung des Verwaltungsgerichts entspricht nicht dem Willen der Wähler.“ Seit wann ist der Wählerwille und nicht das Gesetz Grundlage für eine Gerichtsentscheidung?
Erschreckendes Rechtsverständnis
Hardts Worte erinnern an Trump und leider noch mehr an das „gesunde Volksempfinden“, mit dem früher die Anwendung von Gesetzen durch die Gerichte ausgehebelt wurde. Ein erschreckendes, auch die Gewaltenteilung untergrabendes Rechtsverständnis. Hardt glaubt wahrscheinlich, wenn auch vergeblich, die Rechtsstaatlichkeit seiner Aussage zu retten, indem er anfügt, die Entscheidung des Verwaltungsgerichts „sollte auf Oberverwaltungsgerichtsebene im normalen Rechtsgang überprüft werden.“
Verspricht er sich dort die Berücksichtigung des Wählerwillens? Diese Hoffnung wird sich nicht erfüllen. Sonst stünde es schlecht um die deutsche Justiz. Und die Bundesregierung sollte sich schämen.