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Das deutsche IT-Mysterium

In meiner Nachbarschaft in Berlin-Mitte wohnen fast nur IT-ler. Die Straße könnte „Straße der Informationstechnik" heißen. Immer wenn ich Nachbarn reden höre, zum Beispiel auf Englisch mit dem starken indischen Akzent oder auf Chinesisch oder auf Russisch, dann stelle ich mir die Frage nach dem deutschen IT-Mysterium.
November 6, 2025
November 5, 2025

Kolumne von Ewald König

Als wär’s den Deutschen ins Stammbuch geschrieben: Präsentation auf einer deutsch-indischen Konferenz in Berlin („Wenn du dich nicht durch deine Zukunft definierst, definieren dich andere an Hand deiner Vergangenheit“) (Foto: König)

Jüngst erlebte ich eine Woche, die von ausländischer IT-Nachhilfe geprägt war. Der indische Botschafter in Berlin, Ajit Gupte, und viele Experten thematisierten die indische „Entwicklungshilfe" für Deutschland in Sachen IT.

Kurz nach dem Indien-Event fand in der Botschaft von Usbekistan eine weitere Konferenz statt. Es sprach der usbekische Botschafter, Dilshod Akhatov, gefolgt von dynamischen Branchenkennern aus seinem Land. Von deutscher Seite war unter anderem ein Vertreter des neuen Bundesministeriums für Digitalisierung anwesend (der einräumen musste, dass die Mitarbeiter auch nach hundert Tagen Regierung noch keine Visitenkarten bekommen haben). Auch hier ging es um IT-Nachhilfe für Deutschland. Und wieder ging mir das Mysterium nicht aus dem Kopf.

Gleich darauf folgte eine zweitägige KI-Konferenz im Divan, dem Arabischen Kulturhaus in Berlin-Zehlendorf. Namhafte internationale Experten referierten und diskutierten. Das offizielle Deutschland war nicht vertreten. Trotz frühzeitiger Anfrage hatte niemand Zeit, weder im Digitalministerium noch im Forschungsministerium, das auch für Künstliche Intelligenz zuständig ist. Einfach niemand.

Wie sich um IT-Dienstleistungen für Deutschland ein internationaler Wettbewerb entwickelt, ist bemerkenswert. Inder haben bislang nahezu das Monopol. Chinesen und Russen sind ebenfalls aktiv. Sogar Österreicher müssen aushelfen; ihr Land ist in der Digitalisierung fortgeschrittener als Deutschland. Und nun tritt auch Usbekistan mit seinen Angeboten auf. Es preist seine jungen Experten an, von denen jedes Jahr 30.000 die Fachhochschule absolvieren, und verweist auf Vorteile gegenüber Indien. Dazu gehört nicht nur, dass die Zentralasiaten den Europäern kulturell etwas näher liegen als Inder und dass viele junge Usbeken sogar Deutsch beherrschen, sondern auch, dass die Zeitzone eher für Usbekistan als für Indien spricht. Die geringere Zeitverschiebung passt nun mal besser zum mitteleuropäischen Workflow. Wie in Indien sind auch in Usbekistan die Arbeitskosten der IT-ler rund zwei Drittel günstiger als in Deutschland.

Das deutsche Rätsel, das mich ratlos macht: Wie passt das alles zusammen? Seit Jahrzehnten hören wir, Deutschland habe keine natürlichen Bodenschätze und sei daher auf seine geistigen Leistungen angewiesen. Also wurde der Bildung stets besonderer Wert zugemessen. Ebenfalls seit Jahrzehnten erleben wir Kampagnen, mit denen junge Menschen, besonders Mädchen, für die MINT-Fächer begeistert werden sollen, also für Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik.

Nun muss ich das Ergebnis dieser deutschen Bildungspolitik hinterfragen. Das Ergebnis ist nämlich, dass in Deutschland 140.000 IT-ler fehlen. 140.000! Wie bitte soll Deutschland ohne die indischen, chinesischen, russischen, usbekischen und all die anderen nichtdeutschen IT-Experten den Anschluss an die Gegenwart schaffen? Wie könnte Deutschland seinen blamablen Rückstand in der Digitalisierung ohne diese modernen Gastarbeiter jemals aufholen? Ich meine die Frage ernst. Mir ist es schleierhaft, wie das Problem gelöst werden soll, da ich keine Alarmstimmung, keinen größeren Ehrgeiz entdecken kann.

Es ist erfreulich, dass wenigstens die deutschen Konsulate im Ausland in der Erteilung von Visa für IT-ler pragmatischer geworden sind, weil sie wissen, wie groß der Druck in Deutschland ist. Sogar den Nachweis der deutschen Sprachkenntnisse müssen sie nicht mehr verlangen. Ob die deutschen Konsulatsmitarbeiter eine Erklärung dafür haben, wie die Zahl von 140.000 fehlenden IT-lern zustandegekommen sein kann? Oder ist es ihnen wie mir ein deutsches Mysterium?