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Steinmeier: Diplomatie und Sicherheit müssen viel stärker zusammengedacht werden

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier zum 70. Geburtstag der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik über die leise, aber unverzichtbare Stimme der Diplomatie
September 25, 2025
September 24, 2025
Für die Annalen ein Geburtstagsfoto: Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier im Kreis von Mitarbeitern der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (Foto: Dometeit)

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat für mehr Diplomatie zur Lösung der aktuellen multiplen Krisen in der Welt geworben. Europa müsse militärisch stärker werden und mehr in Verteidigung investieren, um ernst genommen zu werden. "Dennoch wird militärische Stärke alleine die klassischen Instrumente der Außenpolitik nicht ersetzen können", sagte Steinmeier am Mittwoch anlässlich einer Feier zum 70-jährigen Bestehen der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) in Berlin. Der Thinktank, 1955 nach dem Vorbild des britischen Chatham House und des US-Council on Foreign Relations in der noch jungen Bundesrepublik gegründet, berät auch die Bundesregierung und gilt inzwischen als eine der führenden Denkfabriken in Deutschland.

"Es wäre ein Missverständnis zu glauben", so Steinmeiner, "dass die klassische Außenpolitik die verträumte kleine Schwester des stärkeren Bruders Sicherheitspolitik ist". Wer in diesen Zeiten dynamischer Machtverschiebung und ernster Bedrohungslage Außenpolitik ohne Sicherheitspolitik denke, der werde scheitern. Wer aber umgekehrt glaube, das klassische Handwerk der Außenpolitik, die Diplomatie, sei verzichtbar oder habe gar ausgedient, werde ebenso scheitern. "Wir müssen beides zusammendenken und das viel stärker als bisher." Das sei nicht nur wegen der veränderten Sicherheitslage notwendig, sondern auch wegen einer Öffentlichkeit, in der zunehmend das Schwarzweißdenken dominiere, differenzierte Kenntnis und ein von Erfahrung geprägter Kurs erodiere und sich auch die außenpolitische Debatte zunehmend verenge.

Auch wegen des Einflusses sozialer Medien werde die Situation immer diffiziler. Bilder seien oft wichtiger als Inhalte, die Wahrheit zunehmend schwieriger von der Lüge zu unterscheiden. Nuancen, Differenzierung, Geschichtsbewusstsein seien weder politisch noch medial in Mode. "Die oft leise Stimme der Diplomatie hat es nicht leicht gegen das Gebrüll der Vereinfacher." Diplomatie müsse Wege zur Verständigung sondieren und brauche Zeit, Weitsicht und Resilienz. Gerade jetzt seien eine aktive Außenpolitik und eine mutige und kreative Diplomatie gefragt. Der aktuelle Konflikt in der Ukraine, die Zerstörung der europäischen Friedensordnung, Krisen im Nahen und Mittleren Osten, Chinas Drang, die Lücken in der internationalen Machtarchitektur zu füllen, und die Gefährdung der traditionsreichen US-Demokratie spalteten die Weltgemeinschaft. Zur Lösung dieser Krisen seien eigentlich mehr Kooperation, auch in funktionierenden multinationalen Institutionen, Verlässlichkeit und langer Atem nötig. Stattdessen gerieten die internationale Ordnung, Diplomatie, verbindliche Regeln und Verständigung immer mehr unter Druck.

Die DGAP nannte der Sozialdemokrat eine unverzichtbare Institution der deutschen Außenpolitik und einen "strategischen Kompass, der hilft, Kurs zu halten". Sie sei ein Raum zur Reflexion jenseits aller parteipolitischen Erwägungen. An der Feier nahmen u.a. Botschafter, Abgeordnete und Unternehmensvertreter teil. Der langjährige Direktor des Thinktanks, Karl Kaiser, reiste eigens aus den USA an. Er lehrt als außerordentlicher Professor an der Harvard Kennedy School und ist Fellow in einem Projekt zu Europa und den transatlantischen Beziehungen. Der 90-Jährige galt seinerzeit als Vordenker und großer Netzwerker, der die DGAP wie kaum sonst jemand prägte. Ein neues, nach ihm benanntes Zentrum wird sich künftig verstärkt deutschen und europäischen Zukunftsfragen widmen.

Der Chef des Bundesverbandes der Deutschen Industrie, Peter Leibinger, nutzte die Geburtstagsfeier, um auf eine seine Meinung nach dramatische Wirtschaftslage hinzuweisen. In der Weltwirtschaft vollziehe sich ein Systemwechsel, bei dem aus Stabilität Volatilität, aus einer Ordnung mit Regeln Merkantilismus und aus einer zuvor oft wertebasierten Politik pure Machtpolitik werde. Ein unsichtbarer Umbau der Wertschöpfungsketten habe stattgefunden. "Wir (in Deutschland) sind unmittelbar bedroht. Wir sind mitten im Niedergang." In weiteren fünf Jahren sei das deutsche exportorientierte Wirtschaftsmodell am Ende, wenn man dieser Entwicklung nicht entgegensteuere. Leibinger forderte sowohl in Brüssel als auch in Berlin das Brechen von Tabus, eine selektive Industriepolitik, mehr strategisches und langfristiges Denken in der Politik. Über Nacht sei die Europäische Union zum einzigen rechtssicheren Wirtschaftsraum geworden, "aber in ihrer jetzigen Verfasstheit wird die EU nicht in der Lage sein, diese Chance zu ergreifen."

gd