
Wie oft haben wir uns in den vergangenen Jahren über die emotionsfreie Wortkargheit des früheren Bundeskanzlers Olaf Scholz, des „Scholzomaten“, aufgeregt, als dessen einziges rhetorisches Vermächtnis das Wort von der „Zeitenwende“ im Gedächtnis hängen geblieben ist. Und wie sehr über nebulöse Andeutungen und die Unentschlossenheit seiner Regierungspolitik. Wie anders ist da sein Nachfolger Friedrich Merz.
In dieser Woche, als Berlin und Brüssel zu Hochburgen der Diplomatie und der Ukrainegipfel wurden, zeigte Merz viele Gefühle. Als er mit rauher Stimme beim deutsch-ukrainischen Wirtschaftsforum erzählte, manchmal morgens aufzuwachen und den Krieg in der Ukraine für einen bösen Traum zu halten. Oder als er sich über Wladimir Putins „zynische und brutale Reaktion“ auf den Vorschlag, die Waffen über Weihnachten schweigen zu lassen, entrüstete. Als er vor dem Bundestag rief, die Sicherheit Europas sei untrennbar mit dem Schicksal der Ukraine verbunden. Und als er die Dramatik eines „Epochenbruchs“, die Einigkeit der Europäischen Union und Deutschlands Führungsrolle beschwor. „Deutschland darf nicht Opfer oder Objekt sein. Wir sind kein Spielball der Großmächte.“
Politiker dürfen Emotionen zeigen, auch wenn die Rhetorik vielleicht nicht immer treffsicher ist. Und angesichts des manchmal unerträglichen Angst-vor-dem-Wähler-Gefasels sind klare Aussagen umso wichtiger. Merz ist das Risiko eingegangen, hat alles auf eine Karte gesetzt: Er wollte den Ukraine-Konflikt lösen helfen, die Handlungsfähigkeit der EU demonstrieren, Deutschland auf die internationale Bühne zurückbringen und sich von Donald Trump nicht auf der Nase herumtanzen lassen. Es hätte ja klappen können. 50:50 bezifferte Merz selber seine Chancen. Es sind die anderen 50 geworden.
Auf Vorschlag des Kanzlers sollten die Regierungschefs im Europäischen Rat ein Reparationsdarlehen für die Ukraine beschließen, gespeist aus russischen Staatsgeldern. Wenn es der EU nicht gelinge, zu einer einvernehmlichen Lösung bei der Verwendung des russischen Zentralbankvermögens zu kommen, werde deren Handlungsfähigkeit auf lange Sicht zerstört sein, hatte er zuvor gewarnt. Eine Einigung scheiterte nun am Widerstand Belgiens, wo der größte Teil der russischen Reserven in Höhe von 210 Milliarden Euro lagern. Die EU-Staaten konnten sich nicht auf die umfassende Absicherung der Risiken einigen, die Belgiens Regierungschef Bart de Wever verlangt hatte.
Stattdessen nehmen nun 24 der 27 EU-Staaten einen Kredit in Höhe von 90 Milliarden Euro am Kapitalmarkt auf, um damit der Ukraine ein zinsloses Darlehen für die nächsten zwei Jahre zu finanzieren. Mit anderen Worten: Sie verschulden sich, auch wenn es heißt, das eingefrorene russische Vermögen diene immer noch als eine Art Garantie. Ausgenommen von dieser Lösung sind Ungarn, Tschechien und die Slowakei, nur so kam die notwendige Einstimmigkeit zustande. Kiew soll das Geld nach Ende des Krieges zurückzahlen; weigere sich Russland, Reparationen zu übernehmen, soll doch noch auf dessen Zentralbankreserven zurückgegriffen werden. Die rechtlichen Fragen werden dann allerdings nicht einfacher.
Das Völkerrecht gewähre den Zentralbankreserven einen starken Schutz vor Beschlagnahmung, ein Prinzip, das „seit einem Jahrhundert absolut sakrosankt“ sei, sagt Ingrid Brunk, Professorin für Völkerrecht an der Vanderbilt University Law School in den USA. Auch die Europäische Zentralbank hatte vor Vertrauensverlusten in der Eurozone gewarnt, falls die EU auf das Vermögen eines souveränen Staates zurückgreife. Insofern ist die jetzige EU-Entscheidung eine gute Nachricht für den internationalen Finanzmarkt, ebenso wie für den belgischen Finanzdienstleister Euroclear, bei dem der größte Teil des russischen Zentralbankvermögens, rund 185 Milliarden Euro, deponiert ist.
„Das Wichtigste für Euroclear sind Vertrauen und Reputation“, hatte die Chefin des Unternehmens, Valerie Urbain, in einem Interview mit Le Monde in dieser Woche betont. „Wir sind ein Schlüsselfaktor, der unantastbar bleiben muss im Interesse der Stabilität der Finanzmärkte.“ Euroclear verwahrt die Reserven von rund 100 Zentralbanken und insgesamt Gelder von 40 Billionen Euro. Alles, was nur im entferntesten nach Konfiszierung aussähe, wäre nach Meinung von Urbain gegen internationales Recht. Vor einem Moskauer Gericht hat Russlands Zentralbank bereits eine Klage gegen Euroclear auf Schadensersatz eingereicht. Angeblich bereitete Moskau zudem die Enteignung von Eigentum westlicher Unternehmen vor. Der britische Guardian wollte auch von russischen Einschüchterungsversuchen auf Manager von Euroclear und belgische Politiker wissen und bezog sich dabei auf Erkenntnisse westlicher Geheimdienste.
Freuen kann sich Wolodymyr Selenskij, der die EU-Chefs in Brüssel mit flammenden Worten („Geld oder Blut“) zu einer schnellen Entscheidung gedrängt hatte. Das Geld für Verteidigung, darunter die Bezahlung der Soldaten, wird knapp – besonders seitdem sich die USA nicht mehr mit direkten Hilfen beteiligen. Spätestens ab Mitte 2026 wäre der Ukraine das Geld ausgegangen. Insgesamt fehlen in den kommenden zwei Jahren 135 Milliarden Euro. Der Kreml kann also nicht damit rechnen, dass der ukrainische Widerstand so schnell erlischt.
Ob diese Aussicht allerdings Wladimir Putin an den Verhandlungstisch, gar zu Zugeständnissen in der territorialen Frage bringt, die sich auch in den Berliner Gesprächen dieser Woche als schwierigste herausgestellt hat? Eher nein. Um den mühsamen und einen hohen Blutzoll fordernden Vormarsch im Donbass zu rechtfertigen, wird Putin auf das gesamte 6500 Kilometer große Gebiet als Minimum an territorialem Gewinn bestehen, das er vom Beginn der „Spezialoperation“ an gefordert hatte. Er könnte das als Sieg zum Schutz der russischsprachigen Bevölkerung bei einem Friedensschluss verkaufen. Für Selenskij wiederum dürfte es unmöglich sein, auf Gebiete zu verzichten, die Russland noch gar nicht kontrolliert. Die Armee könnte ihm, so wird in Kiew kolportiert, den Dienst verweigern – eine Staatskrise wäre die Folge. Russland wird daher versuchen, möglichst viel vom noch fehlenden Terrain in den kommenden Wochen zu erobern. Der Donbass hat in diesem Konflikt eine immens symbolische Bedeutung gewonnen.
Wer pokert, kann verlieren. Merz‘ Initiative, amerikanische Vermittler, europäische Regierungschefs und eine ukrainische Delegation in die Bundeshauptstadt einzuladen, um den Friedensprozess voranzutreiben, war dennoch richtig. „Mehr Diplomatie als in den vergangenen Tagen und Stunden in Berlin geht nicht“, sagte er zu Recht. Heraus kam dabei die überraschende Erklärung der europäischen Teilnehmer, eine multilaterale Truppe zur Friedensabsicherung aufzustellen. Nur so war es offenbar möglich, den USA ihrerseits konkrete Zusagen für Sicherheitsgarantien an die Ukraine zu entlocken. Ebenso überraschend deutete Putins Sprecher Dmitrij Peskow Verhandlungsbereitschaft in der Frage der Stationierung ausländischer Truppen an. Das sei ein Thema für Verhandlungen, sagte er.
Solange allerdings die Europäer – Ungarn ausgenommen – keine direkten Kontakte mit Moskau haben, sondern sich wie beim Stille-Post-Spiel auf amerikanische Quellen verlassen, ist Europa nicht wirklich im Spiel, außer als Zahlerin. Am Wochenende werden sich Trumps Unterhändler Steve Witkoff und Jared Kushner mit Putins Vertrautem Kirill Dmitrijew in Miami treffen. Und dann kann sowieso wieder alles ganz anders sein.