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Das Fanal von Frankreich

Der Streit um die Finanzierbarkeit des Sozialstaats verschärft die Konflikte in ganz Europa – auch in Deutschland
September 4, 2025
September 3, 2025

Kolumne von Michael Backfisch

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron stehen schwere Zeiten bevor, Deutschland vielleicht auch. Hier mit Ehefrau Brigitte und Bundeskanzler Friedrich Merz beim jüngsten Treffen in Frankreich (Foto:x.com/EmmanuelMacron)

In diesen Tagen sucht Frankreichs Präsident Emmanuel Macron den Glanz der internationalen Bühne. Beim amerikanisch-europäischen Gipfel in Washington saß er neben US-Präsident Donald Trump und warb für einen transatlantischen Schulterschluss bei den Ukrainehilfen. Während der UN-Vollversammlung Ende September wird sich Macron als Bannerträger eines unabhängigen Palästinenserstaats profilieren. Die Auftritte im Rampenlicht bescheren dem Franzosen Aufmerksamkeit und Prestige. Sie können jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass zu Hause die Hütte brennt.

An diesem Montag wird Premierminister François Bayrou in der Nationalversammlung die Vertrauensfrage stellen. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit wird er sein Amt verlieren. Denn Bayrou verknüpft die Abstimmung mit einem einschneidenden Sparpaket, was in Frankreich als politische Todsünde gilt. Der Premier will den Haushalt um 44 Milliarden Euro kürzen und macht dabei vor Tabubrüchen nicht Halt: Zwei Feiertage sollen gestrichen, Sozialausgaben einschließlich Renten eingefroren, Steuerausnahmen abgeschafft werden. Für die reformunfähigen Franzosen ist dies eine Art Kriegserklärung von oben.

Die Links- und die Rechtspopulisten gehen auf die Barrikaden, weil sie sich politische Vorteile erhoffen. Die Linkspartei „La France Insoumise“ („Unbeugsames Frankreich“) lehnt den strikten Sparkurs ebenso ab wie der rechtsnationale „Rassemblement National“, der Bayrous Minderheitsregierung gelegentlich toleriert hatte. Der Premier, der sich nur auf etwa ein Drittel der Parlamentsabgeordneten stützen kann, dürfte damit aus dem Amt scheiden. Macron müsste sich dann den siebten Premier seit seinem Einzug in den Elysée-Palast im Jahr 2017 suchen.

In Frankreich würde dies zu noch mehr politischem Chaos führen. Denn das Land befindet sich in einer gefährlichen Schuldenspirale. Im vergangenen Jahr kletterte das staatliche Defizit auf rund 170 Milliarden Euro, das sind fast sechs Prozent der Wirtschaftsleistung. Das gesamte Minus der öffentlichen Hand überschritt im ersten Quartal 2025 die Marke von 3,3 Billionen Euro. Das entspricht 114 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Damit hat Frankreich das Niveau von Europas größten Schuldensündern Italien und Griechenland erreicht.

Paris zahlt nun die Zeche für jahrzehntelange Reformverweigerung. Bereits die Anhebung des Renteneintrittsalters von 62 auf 64 Jahre war fast eine „Mission Impossible“: Macron konnte dies 2023 nur am Parlament vorbei durch Anwendung des Verfassungsartikels 49.3 durchboxen. Die Lage in Frankreich ist schwieriger als anderswo, weil es den größten Sozialstaat der Welt unterhält. Die Sozialausgaben machen knapp ein Drittel der gesamten Wirtschaftsleistung aus. Der öffentliche Sektor beansprucht insgesamt knapp 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Die Franzosen haben eine Subventions-Mentalität verinnerlicht, die nur schwer zu brechen ist. Macron hat die Starrheit seiner Landsleute bei einem Staatsbesuch in Dänemark 2018 aufgespießt. Er lobte die Dänen als „lutherisches Volk“, das offen für wirtschaftspolitische Reformen sei – im Gegensatz zum „widerspenstigen Gallier, der sich Änderungen widersetzt". Der Protesthagel, der zu Hause auf Macron einprasselte, war gigantisch.

Für uns besteht kein Grund, die Wutwelle jenseits des Rheins mit Schadenfreude zu verfolgen. Denn Frankreich ist ein Fanal für Europa: Die Konflikte, die dort mit aller Schärfe ausgetragen werden, drohen früher oder später auch in anderen Staaten. In den 50er- und 60er- Jahren hatten die westeuropäischen Länder noch eine günstige Demografie. Im Schnitt zahlten rund sechs Berufstätige mit ihren Beiträgen für einen Rentner. Die Wirtschaft erzielte üppige Wachstumsraten. Die Steuerquellen sprudelten und füllten die Kassen. Die große Mehrheit der politischen Parteien stand hinter dem Ausbau des Sozialstaats. Doch mittlerweile hat sich die Lage umgekehrt. Im Schnitt kommen nur noch etwa zwei Beschäftigte für einen Ruheständler auf. Während die Lasten der Sozialversicherung steil ansteigen und den größten Anteil im Haushalt ausmachen, lahmt die Wirtschaft. Das Finanzierungsmodell des Sozialstaats, das in der Vergangenheit getragen hat, funktioniert heute nicht mehr.

Alle Länder Europas stehen vor dem gleichen Dilemma: Die Balance zwischen Sozialstaat, Haushaltsstabilität und den Bedingungen für eine florierende Wirtschaft muss an die Finanzierbarkeit angepasst werden. Es bedarf eines neuen Gesellschaftsvertrags. Die Polarisierung mag zwar nicht überall so weit vorangeschritten sein wie in Frankreich. Doch Rechts- und Linkspopulisten, die die Realität mit Wünsch-dir-was-Programmen vernebeln, sind im Aufwind – auch in Deutschland. Die AfD reitet auf ihrem Remigrations-Narrativ herum, als ob sich mit der geballten Abschiebung illegal hier lebender Ausländer alle Probleme lösen ließen. Die Linke trötet ihr Mantra „Tax the Rich („besteuert die Reichen“) in die Landschaft und will damit Ressentiments gegen „die da oben“ schüren. Beide Parteien sind bei komplexen Aufgaben wie der Sanierung der Sozialversicherung oder der Ankurbelung der Wirtschaft blank.

AfD und Linke bewegen sich in ihrer ideologischen Wolke, haben aber programmatisch keine schlüssigen Konzepte zu bieten. Dennoch legen sie in den Umfragen zu, weil der Frust über die schwarz-rote Koalition weit verbreitet ist. Und die Regierung befeuert das auch noch. Den Einwurf von Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU), dass der Sozialstaat bei der derzeitigen Wirtschaftsleistung nicht mehr finanzierbar sei, quittierte Arbeitsministerin Bärbel Bas (SPD) mit der verbalen Fäkalkeule „Bullshit“. Dabei flossen allein im vergangenen Jahr 1345 Milliarden Euros in Renten, Krankenkassen, Kindergeld etc. – das sind 31,2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Die Zahlen sprechen für sich: Wenn nichts passiert, explodiert das System. Die SPD-Co-Vorsitzende Bas mag kurz vor den Kommunalwahlen in Nordrhein-Westfalen auf den billigen Applaus der Jusos geschielt haben. Doch der Kollateralschaden ihrer Vulgär-Kommunikation ist immens. Es bestätigt das Narrativ derer, die sagen, „die Politik kriegt es nicht hin“.

Es gibt nur ein Erfolgsrezept: Die politische Führung muss zügig langfristig tragbare Konzepte liefern, Leistung belohnen und eine soziale Abfederung für Bedürftige gewährleisten. Und sie muss den Bürgerinnen und Bürgern viel erklären. Gelegentlich gehört auch eine Blut-Schweiß-und-Tränen-Rede als Wachrüttel-Effekt ins Repertoire, denn die Lage ist ernst. Die Alternative ist die Fahrt in den Finanzkollaps.