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"Der chinesische Präsident ist die einzige Person, die den Krieg stoppen könnte."

Der ehemalige Chef des NATO-Militärausschusses, Rob Bauer, über schlechte Friedensaussichten in der Ukraine, Kommunikationskanäle mit Russland, und warum es notwendig ist, die Menschen auf den Krieg vorzubereiten
August 15, 2025
August 15, 2025

Interview von Gudrun Dometeit

Krieg ohne Aussicht auf ein Ende: Ein russischer Militärschlag zerstörte im Juni 2025 dieses Gebäude für behinderte Kinder in der ukrainischen Hafenstadt Odessa (Foto: Ukraine Media Center)

Anfang September werden Russland und Weißrussland das Großmanöver “Zapad  25” starten.  Einige Nato-Staaten befürchten, es könne sich dabei nicht nur um militärisches Training handeln sondern um die Vorbereitung  für einen Angriff auf die östliche NATO-Flanke. Ist die Angst berechtigt? 

 

Seitdem ich das NATO-Hauptquartier Mitte Januar verlassen habe, bin ich natürlich nicht mehr in Geheimwissen eingeweiht, so dass ich diese Frage nicht auf der Grundlage von Echtzeit-Informationen beantworten kann. “Zapad” ist nicht neu sondern findet jährlich statt, und Russland war dabei schon immer Gegenstand von Beobachtung. Balten, Polen und die Nato als ganzes schauen auch jetzt genau hin, ob es Anzeichen für eine Aggression gegen die NATO gibt. Russlands Ambitionen erstrecken sich nicht nur auf die Ukraine. Im Dezember 2021 teilte Moskau mit, dass es im Grunde genommen eine Pufferzone wiederhaben will, die aus den baltischen Staaten, Polen, der Slowakei, Ungarn, Rumänien und Bulgarien besteht. Russland wollte zwar nicht einmarschieren, aber erreichen, dass die NATO sich zurückzieht und nur einmal im Jahr eine relativ kleine Übung in diesen Ländern veranstaltet. Ich wäre allerdings überrascht, wenn es jetzt zu einer Invasion käme, weil ich glaube, dass die Russen in der Ukraine noch sehr, sehr beschäftigt sind.

 

Was genau wären Hinweise auf einen bevorstehenden Angriff? 

 

Die Massierung von Truppen natürlich, und der Transport von Krankenhäusern, Munition in großen Mengen oder Blutkonserven. Das wären Anzeichen für den Einsatz von Infanteriekräften, bei dem mit hoher Wahrscheinlichkeit Soldaten verwundet werden. Ein solches Szenario haben wir 2022 in oder um die Ukraine herum gesehen. Eigentlich wussten wir alle, was geschah. Aber es gab immer noch eine Reihe von  NATO-Staaten, die nicht glauben konnten, dass Wladimir Putin wirklich angreifen würde. Diese Art von Naivität ist, denke ich, ist verschwunden. Was das Manöver “Zapad” angeht: Es war in den vergangenen Jahren kleiner als gewöhnlich. 2017 haben daran noch 200 000 Soldaten teilgenommen, eine nicht ungewöhnlich hohe Zahl, wenn man, wie Russland es formuliert, eine Nato-Invasion abwehren will. Ich würde mich wundern, wenn sie dieses Jahr genauso viele Kräfte aktivieren könnten.

 

Wenn Russland keinen Einmarsch in NATO-Gebiet wagt, weil es zur Zeit noch zu sehr in der Ukraine gebunden ist - läge es dann nicht in seinem Interesse, den Krieg in der Ukraine zu beenden, um freie Hand zu bekommen für wie auch immer geartete Pläne gegen die Nato?

 

Die Priorität für Russland ist die Ukraine. Wenn die Russen diesen Krieg wirklich beenden wollten, könnten sie ihre Sachen packen und nach Hause gehen - dann ist er vorbei. Aber das tun sie nicht. Und weil sie weitermachen, müssen die Ukrainer weitermachen, denn wenn sie den Krieg heute beenden würden, hätten sie ihr Land verloren. Vor dem geplanten Gespräch zwischen Donald Trump und Wladimir Putin in Alaska hat es außer ein paar Worten, dass Putin es ernst meine mit der Beendigung des Krieges, keine weiteren realen Vorschläge gegeben. Die Ukrainer glauben Putin sehr ungern und denken, Russland werde den Waffenstillstand nutzen, um Truppen neu zu formieren. Derzeit gehört Putin ja noch nicht einmal das gesamte Territorium der vier Provinzen oder Oblaste, die er als Teil Russlands bezeichnet. Das dürfte das Minimum dessen sein, war er vor dem Start von Verhandlungen haben will.

 

Zwischen der NATO oder dem Westen und Russland gab es auch oder gerade in Spannungszeiten eine ganze Reihe gegenseitiger Verpflichtungen, wie die Ankündigung von Manövern sowie informelle Kanäle, um größere Eskalationen zu vermeiden. Gibt es noch solch ein Minimum an Kommunikation zwischen beiden Seiten?

 

Es existiert noch eine Hotline zwischen Shape im belgischen Mons, dem Oberkommando der Alliierten Streitkräfte in Europa, und dem russischen Oberkommando. Sie wird jeden Tag technisch überprüft, d.h. man nimmt den Hörer ab und testet, ob es noch eine Verbindung gibt. Ich selber habe viermal versucht, mit Walerij Gerassimow, dem russischen Generalstabschef, Verbindung aufzunehmen. Nach 2014 durften nur noch zwei Personen Kontakt mit den Russen haben, der Vorsitzende des NATO-Militärausschusses und der NATO-Oberbefehlshaber der Alliierten Truppen in Europa. Auf diplomatischer Ebene gab es keinen Kontakt mehr. Das letzte Treffen fand mit meinem Vorgänger 2019 statt.

 

Und wie hat Gerassimow auf Ihre Kontaktaufnahme reagiert?

 

Beim ersten Mal sagte er: "Ich bin mit dieser speziellen Militäroperation beschäftigt. Wenn ich so weit bin, werde ich mich bei Ihnen melden.”  Natürlich ist das nicht passiert. Danach habe ich mich gemeldet, aufgrund von Vorfällen mit hohem Eskalationspotential. Wie bei dem Vorfall in Polen, als eine Rakete  zwei Zivilisten tötete – die sich als ukrainische Luftabwehrrakete entpuppte. Dann  nach der russischen Verletzung rumänischen Luftraums. Beim dritten Mal sagte Gerassimow, er könne nicht mit uns reden, weil wir Teil des Problems seien. Und beim letzten Mal sagte er dann so etwas wie: “Ich kann nicht mit Ihnen reden, aber Sie können mich jederzeit über meine Kontaktstelle in Brüssel erreichen.” Dort gibt es immer noch eine Botschaft mit einem Verteidigungsattaché. Darüber haben wir kommuniziert. Aber es ist mir nicht gelungen, mit ihm direkt über die Vorgänge zu sprechen. Das ist schlecht, denn die Idee eines solchen hochrangigen militärischen Kontakts ist ja nicht, Freunde per se zu werden, sondern sicherzustellen, dass man im Falle eines Zwischenfalls zum Telefon greifen und nachfragen kann. Bevor man einen Krieg beginnt, ist eine abschließende Kontrolle wichtig, ob es sich bei dem Vorfall nicht um einen technischen Fehler handelt. Gerassimow hat auch nicht mit dem Oberbefehlshaber der Alliierten Nato-Truppen in Europa gesprochen, nur mit den Militärchefs  der USA, Frankreichs und Großbritanniens.   

 

Eine irgendwie geartete Kommunikation funktioniert also offenbar …. Das wäre ja eine gewisse Beruhigung für Menschen, die sich vor einem dritten Weltkrieg fürchten. Wobei Sie in Ihrem Buch (“Wenn Du Frieden willst, bereite Dich auf den Krieg vor”) thematisieren, wie sich Menschen auf einen Krieg vorbereiten sollen.

 

Nein, die Kommunikation funktioniert nicht, nicht auf NATO-Ebene. Es ist das russische Spiel, sie wollen bilateralen Kontakt und hoffen, einzelne Nationen beeinflussen zu können. Sie haben keines der strategischen Ziele in der Ukraine erreicht und sind nicht interessiert an irgendwelchen Gesprächen. Ich habe die Frage inzwischen oft gestellt bekommen: Warum wollen Sie nicht über den Frieden reden, anstatt sich auf den Krieg vorzubereiten? Nun, man braucht zwei zum Tango. Man kann sich nicht in einen Frieden hineinreden. Die einzige Sprache, die Putin versteht, ist die von Macht und Stärke.  

 

(Eleonora Russell, Co-Autorin): Das heißt nicht, dass wir aggressiv sein sollten. Wir hatten auch eine große Diskussion über den deutschen Buchtitel. Es geht um Vorbereitung, im Grunde um eine Art Selbstverteidigungskurs, damit wir im Falle eines Angriffs nicht völlig wehrlos sind. Wenn wir zeigen, dass wir in jeder Hinsicht stark sind, geistig, körperlich, wirtschaftlich, dann sinkt die Wahrscheinlichkeit eines Angriffs. Wir wollen die Leute nicht ängstigen sondern vorbereiten.

 

Ein US-General hat kürzlich gewarnt, bei  einem Angriff auf die baltischen Staaten solle der Westen mit der Eroberung Kaliningrads reagieren. Das klingt ziemlich aggressiv, jedenfalls nicht wie ein Versuch, Eskalation zu vermeiden.  

 

Was würden Sie denn vorschlagen? Was Sie sagen, entspricht dem russischen Narrativ. Dass alles, was wir tun, zu einer Eskalation führen wird. Aber die Russen haben mit dem blutigen Krieg angefangen. Wir beschränken uns manchnal selber, weil wir Angst haben, Dinge zu tun, die militärisch logisch sind. Ich bin sehr froh, dass die NATO jetzt bereit ist, über Präzisionswaffen nachzudenken. Wenn wir von russischen Raketen angegriffen werden, werden wir tief in Russland angreifen. Man kann auf all diese Raketen warten und versuchen, sie abzuschießen, oder man schaltet die Systeme aus, von denen sie abgefeuert werden. Das ist der weit smartere Weg und widerspricht nicht internationalem Recht. Wir müssen aufhören, so zu reden, als ob wir der Aggressor wären. In dem Szenario, das Sie beschrieben haben, haben die Russen angefangen. Dann werden wir sie verletzen, ob in Kaliningrad, Moskau oder wo auch immer. Entscheiden müssen das natürlich die Führungen der NATO und der Nato-Staaten. Russland sollte verstehen, dass es bei einem Angriff einen sehr, sehr großen Fehler macht. Wenn es die Kosten am Ende höher kalkuliert als den Nutzen eines Krieges, dann funktioniert Abschreckung tatsächlich.

Rob Bauer diskutiert mit dem Generalinspekteur der Bundeswehr, Carsten Breuer. Breuer ehrte den Niederlander zu dessen Abschied als Vorsitzender des Nato-Militärausschusses im Januar dieses Jahres mit einem Großen Zapfenstreich in Berlin (Foto. Russell/Bauer)

Donald Trump versucht den Ukrainekrieg höchstpersönlich zu beenden. Welche Chancen räumen Sie dem Versuch ein? Könnte Russland am Ende doch bereit sein einzulenken und ein Waffenstillstand Anfang eines freilich sehr, sehr langen Friedensprozesses werden? Oder lässt sich Trump von Putin an der Nase herumführen?

 

Russland ist aus mehreren Gründen nicht an einem Frieden interessiert. Erstens sind Putin und sein Umfeld der festen Überzeugung, dass die Ukraine ein Teil Russlands ist und deshalb erobert werden muss. So lange das nicht der Fall ist, werden sie weiter kämpfen. Zudem basiert die gesamte Wirtschaft auf diesem Krieg. Wenn er aufhört, gibt es keine Wirtschaft mehr. Drittens erhalten die russischen Kräfte in der Ukraine nun einen viel höheren Sold. Selbst wenn Sohn oder Ehemann stirbt, bekommen die Familien eine Geldsumme, mit der sie zum Beispiel ihr Haus abbezahlen können. Das hört also auch auf. Und dann kommen 700 000 traumatisierte russische Soldaten nach Hause, die ein großes Problem für die Gesellschaft darstellen werden. Im Afghanistankrieg in den 80ern ging von traumatisierten Rückkehrern hohe Kriminalität und Missbrauch aus. Deshalb glaube ich nicht, dass Sanktionen gegen Russland ausreichen, um den Krieg zu stoppen. Interessant werden sekundäre Sanktionen gegen Indien, China, Nordkorea oder den Iran, die mit dem Kauf von Öl und Gas Russland ermöglichen, den Krieg fortzusetzen. Möglicherweise führen sie dazu, dass China sein Verhalten überdenkt. 

 

Ist der Krieg mit militärischen Mitteln zu gewinnen?

Das ist im Moment unwahrscheinlich. Die Russen gewinnen den Krieg nicht, und die Ukrainer verlieren ihn nicht. Es gibt eine Art strategisches Patt. Große Durchbrüche sind nicht zu erwarten. Was kaum diskutiert wird: Den Schlüssel zur Beendigung des Krieges hält Chinas Präsident Xi Jinping in der Hand. Alle schauen auf Trump, Selensky oder Putin. Niemand spricht über den wahren Puppenspieler. Russland wird ohne Chinas Unterstützung nicht weitermachen können. Xi ist die einzige Person, die wirklich den Krieg stoppen könnte – wenn er den Stecker zieht. Allerdings sagte der chinesische Außenminister jüngst, es sei für China inakzeptabel, wenn Russland diesen Krieg verliere. Wenn ein autokratisches Land, das gegen das Völkerrecht verstoßen hat, einen Krieg verliert, würde das zeigen, dass es sich nicht lohnt, Regeln und Gesetze zu brechen. Aber wenn diese Nation weder gewinnt noch verliert, kann das Spiel immer weitergehen. Das liegt im Interesse Chinas.

 

Die Situation ist aufgrund der vielen geopolitschen Player äußerst komplex.  Nehmen wir dennoch an, es kommt zu einem Waffenstillstand: Wie sollte die Sicherheit der Ukraine gewährleistet werden? Wie könnte die Grenze zu Russland gesichert werden – mit Truppen aus Nato-Staaten?

 

Man müsste zunächst die Grenze definieren. Verläuft sie an der Frontlinie? Oder zwischen der Ukraine und den Oblasten, von denen Russland sagt, dass sie jetzt Teil seines Landes seien? Dann braucht man einen Mechanismus, um Verletzungen des Waffenstillstands zu kontrollieren, egal ob durch Ukrainer oder Russen. Die Überwachung ist notwendig, während man über eine längerfristige Lösung des Konflikts spricht.  Das könnte zum Beispiel bedeuten, dass die Ukraine erklärt, die vier Oblaste niemals aufzugeben aber für den Moment die vereinbarte Grenze zu akzeptieren. Und geht es bei einer internationalen Mission um die Verteidigung der Ukraine oder nur um eine Überwachung?  Werden die Russen akzeptieren, wenn NATO-Staaten Teil einer  Überwachungstruppe sind? Ich weiß, dass Großbritannien und Frankreich an einer solchen Idee gearbeitet haben, aber wenn sie nicht von einer der Parteien akzeptiert wird, wird das keine Lösung sein. Werden die USA als Friedensvermittler dabei sein, obwohl sie    sich eigentlich nicht mit eigenen Truppen einmischen wollen? Wird es eine gemeinsame Mission von Chinesen und  Amerikanern? Es gibt keine einfache Antworten.   

 

Könnten UNO oder OSZE eine Überwachungsmission übernehmen?

 

Die UNO ist im Hinblick auf den Ukrainekonflikt gelähmt. Zwei der ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats - Russland und China -  blockieren im Grunde alles. Und die OSZE ist nicht mächtig genug, weil sie nicht viele juristische Mittel hat, um dem Rest der Welt etwas aufzuzwingen.  

 

Konzentriert sich die NATO in ihren strategischen Überlegungen zu sehr auf die Bedrohungen durch Russland und vernachlässigt China? 

 

Eine direkte militärische Bedrohung durch China gibt es nicht. Aber das Verständnis wächst, dass China zu einer Herausforderung wird. Auf dem NATO-Gipfel in Washington im Juli 2024 wurde scharfe Kritik (an der grenzenlosen Partnerschaft zwischen Russland und China, d. Red.) geäußert. Es betrifft nicht nur die NATO sondern auch die EU oder G7 (-Industriestaaten, d. Red.), die verstehen, dass uns zum Beispiel die Abhängigkeit von seltenen Erden aus China verwundbar macht. Dagegen müssen wir etwas tun.

 

Der neue Bundeskanzler Friedrich Merz will aus der Bundeswehr die stärkste konventionelle Armee Europas machen und hat einen freiwilligen Wehrdienst eingeführt. Ist das der richtige Weg? Wäre eine Kombination aus Berufsarmee und Zivilschutz sinnvoller?

 

Was ich jedem Minister und jedem Regierungschef, den ich in den vergangenen dreieinhalb Jahren getroffen habe, sage, ist: “Lieber Ministerpräsident, lieber Minister, Sie müssen sicherstellen, dass Sie die Zahl der Soldaten skalieren können!” Wie man das macht, ist egal, aber man muss ein System finden, mit dem man schnell auf die benötigte Anzahl kommt. Das muss nicht unbedingt die volle Wehrpflicht sein.  In einem Krieg geht es nicht nur darum, neue Kugeln, gepanzerte Fahrzeuge und Panzer zu produzieren, sondern auch darum, neue Leute zu finden. Menschen sterben oder werden verwundet. Niemand spricht gerne darüber, aber das ist die Realität. In den Niederlanden haben wir auch einen Freiwilligendienst.  Wenn man die Schule verlässt und nicht sofort studieren will, kann man für ein Jahr zu den Streitkräften gehen. 1000 junge Männer und Frauen haben das bereits getan. Und interessanterweise sind 75% von ihnen nach diesem einen Jahr geblieben. In Finnland besteht die ständige Armee aus etwa 30 000 Mann. Innerhalb eines Monats können sie auf 280 000 aufstocken – durch aktive Reservisten. Wenn sie innerhalb eines Jahres wieder auf den Knopf drücken, können sie auf 900 000 erhöhen – das entspricht etwa einem Fünftel der Bevölkerung Finnlands. Das ist ein gutes System.

 

Über Kriege diskutieren augenblicklich viele, über Rüstungskontrolle kaum noch jemand.  So gut wie kein Vertrag zwischen Ost und West ist mehr gültig.  Wäre es nicht gerade jetzt dringend nötig, über eine neue Sicherheitsarchitektur in Europa nachzudenken,  angesichts neuen Wettrüstens und neuer Waffen?

 

Europa ist nicht wirklich ein Akteur.  War es noch nie. Es war die NATO unter Führung der USA. Die meisten dieser Rüstungsverträge wurden zwischen der Sowjetunion und den USA geschlossen, und dann traten andere Nationen bei. Das große Problem für die USA und Russland ist, dass sich beide durch diese Verträge selbst einschränken. Das ist ja auch deren Sinn. Aber mit China gibt es nun ein drittes Land, das seine Streitkräfte  und sein Atomwaffenarsenal ohne Beschränkungen aufstockt, weil es nie Teil dieser Waffenkontrollmechanismen war. Die Chinesen werden wahrscheinlich erst dann über einen Mechanismus sprechen, wenn sie über eine ihrer Meinung nach ideale Menge an Waffen verfügen. Auch das ist ein Zeichen für die zerbröselnde internationale regelbasierte Ordnung.

 

Wie soll man eigentlich genau Ihren Buchtitel verstehen? Ein wichtiges NATO-Dokument, der sogenannte Harmel-Bericht von 1967, besagte einst mitten im Kalten Krieg, dass Abschreckung und Entspannung beides Elemente von Sicherheit sind. Von Entspannung ist in Ihrem Buch allerdings wenig zu lesen.

 

Lange haben wir geglaubt, der Westen habe den Kommunismus besiegt, und die wirtschaftlichen Beziehungen seien das Wichtigste in der Beziehung zwischen Nationen. Es werde nie wieder Krieg geben, weil das der Wirtschaft schade.  Diese Argumentation wurde widerlegt, als Putin 2008 Georgien angriff, 2014 die Krim eroberte und 2022 den Ukraine-Krieg begann. Starke wirtschaftliche Beziehungen Russlands mit anderen Staaten haben ihn nicht davon abgehalten. Im Grunde hat er das getan, weil er ein schlechter Mensch ist. Er will etwas haben, was ihm nicht gehört, koste es, was es wolle. Es ist bezeichnend, dass China sich nicht von Russland distanziert hat, während sie gleichzeitig erklären, wie wichtig ihnen das internationale Recht, Souveränität und international anerkannte Grenzen sind. Dabei waren China und Russland als permanente Mitglieder des UNO-Sicherheitsrats Teil der regelbasierten internationalen Ordnung, die man nach den verheerenden beiden Weltkriegen geschaffen hat. Meinungsverschiedenheiten sollten demnach erstmal in diplomatischen Gesprächen und dann vor Gericht gelöst werden. Dieses System wird von den Russen absichtlich zerstört. Das heißt nicht, dass wir unsere Ideale von Recht und Ordnung aufgeben. Aber wir müssen realistisch und idealistisch sein. Wir haben so sehr an das Ideal geglaubt, dass wir vergessen haben, dass es vielleicht auch den großen Knüppel braucht.

 

Sehr optimistisch hören sich Ihre Aussagen, was die Zukunft des Zusammenlebens angeht, nicht an.   

 

(Russell) Doch, wir sind immer noch sehr optimistisch. Und der Grund dafür ist, dass wir im NATO-Hauptquartier gesehen haben, was hinter den Kulissen vor sich ging. Wir haben sozusagen die wahre NATO erlebt und glauben immer noch an sie. Sogar mehr denn je. Die Solidarität zwischen den Verbündeten ist real und tief empfunden.

 

Das klingt übertrieben positiv. Die USA bringen immer wieder Rückzug ins Gespräch, und in Europa sind die Zweifel an der US-Solidarität keineswegs beseitigt.

 

Haben sie die NATO etwa verlassen? Nein, haben sie nicht. Und im übrigen sind wir es, die die USA im Stich gelassen haben, die ganze Arbeit machen und bezahlen ließen. Und die Jahr für Jahr versprochen haben, dass wir uns bessern würden, und jedes Jahr unser Versprechen gebrochen haben. Deshalb sind sie jetzt wütend und haben die Nase voll von Europa. Wenn die Europäer jetzt endlich ihre Versprechen einhalten, kann die NATO stärker denn je sein. Europa könnte zum Beispiel Waffensysteme kaufen, über die zur Zeit nur die USA verfügen. Dann könnten einzelne Länder allein oder gemeinsam Aufgaben übernehmen, die bislang nur die USA erledigen.

 

Sie plädieren für den Kauf amerikanischer Waffen? Dabei versucht Europa doch eine eigene effiziente Rüstungsindustrie aufzubauen.   

 

Manchmal muss man amerikanische Waffen kaufen, weil es keine Alternative gibt. Zum Beispiel für Patriots oder F35-Kampfflugzeuge . Es geht nicht um Herstellerfirmen sondern um Fähigkeiten, zum Beispiel in der Luftverteidigung oder bei Kommunikationssatelliten, bei denen wir uns zu lange auf die USA verlassen haben.

 

Geht es auch um nukleare Unabhängigkeit von den USA?

 

Nein, denn das ist unrealistisch.  

 

Nach dem Ausscheiden aus der Nato - wie sieht Ihre berufliche Zukunft aus?

 

Mit meiner Co-Autorin werde ich Vorträge in den Niederlanden halten, um mehr Bewusstsein für einen gesamtgesellschaftlichen Ansatz von Resilienz zu schaffen. Außerdem beraten wir in Kooperation mit Deloitte Unternehmen in ganz Europa, die die Gesellschaft am Laufen halten, wie große Supermärkte oder Energieversorger, um sie davon zu überzeugen, sich besser auf Krisen vorzubereiten.  Und wir sprechen mit Finanzinstituten und erklären ihnen, dass es ethisch vertretbar ist, in Verteidigung zu investieren und dies nicht gegen Nachhaltigkeitsziele verstößt.

 

Haben Sie kein Interesse, in die Politik einzusteigen?

 

Tatsächlich haben das einige vorgeschlagen. Ich wurde auch von einer Partei in den Niederlanden gefragt,    ob ich Interesse hätte, aber ich habe nein gesagt. Jetzt habe ich doch viel mehr Freiheiten, über Dinge zu sprechen, die ich für wichtig halte.

Wenn du Frieden willst, bereite dich auf den Krieg vor. Eine Blaupause zur Abschreckung: NATO-Gipfel, 2025 | von Admiral Rob Bauer und Eleonora Russell

Verlag: HarperCollins

Der ehemalige niederländische Generalstabschef Rob Bauer übernahm 2021 das Amt des Vorsitzenden des NATO-Militärausschusses und wurde damit zum wichtigsten militärischen Berater des NATO-Generalsekretärs. Während seiner Amtszeit entwickelte der 62-Jährige neue Verteidigungspläne und Strukturen, um die NATO im Hinblick auf die neue Sicherheitslage nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine zu modernisieren. Mit Coautorin Eleonora Russell arbeitete er bereits in den NIederlanden zusammen. Die Kommunikationsexpertin schrieb mehrere preisgekrönte Reden für ihn.