Interview von Ewald König
Das bevölkerungsreichste Land der Erde hat das solideste Wirtschaftswachstum. Doch in Deutschland gibt es oft zu wenig Indien-Expertise. Mit 50.000 Studenten stellt Indien die größte nichtdeutsche Studentengruppe an deutschen Universitäten; dank Donald Trumps Visa-Politik werden es sprunghaft mehr. Deutschlands Botschafter in New Delhi, Philipp Ackermann, erklärt den indischen Pragmatismus, die dynamische Rüstungskooperation und warum die bilateralen Beziehungen noch nie so gut waren wie jetzt und wie Indien zu einem der wichtigsten Partner heranwächst.
In Deutschland fällt auf, wie viele IT’ler aus Indien kommen. Ganz allgemein ist die indische Migration nach Deutschland stark. Wie kommt das?
Die meisten Inderinnen und Inder arbeiten bei uns im Pflegebereich, als Kranken- und Altenpflegerinnen und -pfleger. Sie werden momentan aus Indien massiv angeworben und rekrutiert. Viele kommen aus Bundesstaaten wie Kerala oder Telangana. 20 Prozent der Bevölkerung von Kerala arbeitet im Ausland, die meisten in Gesundheitsberufen. IT-Fachkräfte gibt es auch, aber in geringerer Zahl. Hinzu kommen viele Auszubildende – etwa im Bäcker-, Metzger oder Dachdeckerhandwerk, auch als Mechaniker und Busfahrer. Deutschland braucht diese Fachkräfte dringend.
Wird diese Zuwanderung von der deutschen Seite aktiv gefördert?
Ja, wir haben Programme, um die Deutschkenntnisse auf das nötige Niveau zu bringen. Denn im Pflegebereich geht es nicht ohne Deutsch, anders als in der IT-Branche. Die Kooperation läuft gut, aber der Bedarf ist groß, wir brauchen viel mehr.
Macht hier das Visumverfahren nicht immer wieder Probleme?
Bei uns nicht, zumindest nicht bei Fachkräften – das Verfahren ist weitestgehend über das Auslandsportal digitalisiert. Nur bei Kurzzeitvisa im Sommer gibt es Engpässe, weil viele Inderinnen und Inder der Hitze entkommen und nach Europa reisen wollen. Da braucht man für einen Termin für ein Schengenvisum ca. acht Wochen Vorlauf. Aber das ist ein saisonales Phänomen. Im Winter reicht ein Tag.
Mit welchen Problemen in den bilateralen Beziehungen haben Sie zu tun?
Insgesamt sind die deutsch-indischen Beziehungen so gut und dicht, wie sie überhaupt noch nie waren!
In dieser Dichte gibt es gelegentlich kleinere Reibungen. Aber das kommt ja auch mit Frankreich vor. Die Beziehungen sind so intensiv, weil sie auf vielen Ebenen stattfinden – jetzt sogar auch im Verteidigungsbereich. Deutschland macht vermehrt Übungen mit Indien, etwa bei gemeinsamen Luftwaffenübungen mit -zig deutschen Flugzeugen. Das war eindrucksvoll. Wir verstärken sogar unseren Militärstab personell. Das ist eine neue Dimension der rüstungspolitischen und militärischen Zusammenarbeit zwischen den Streitkräften.
Macht das die Chinesen nicht nervös? Wird interveniert?
Nein. Das würden wir uns auch nicht bieten lassen. Das ist unsere souveräne Entscheidung.
Welchen Umfang haben die Waffenlieferungen?
Wir haben durchaus eine gewisse Rüstungspräsenz in Indien. Am interessantesten ist der U-Boot-Deal mit ThyssenKrupp Marine Systems (TKMS), bei dem die Entscheidung in Indien in den nächsten Monaten fallen wird. Es gibt aber auch indische Angebote an uns. Der indische Markt mit einer sehr differenzierten, teils privatisierten Verteidigungsindustrie ist für uns durchaus interessant.
Sind die Sprachkurse nicht von den deutschen Sparmaßnahmen betroffen, vor allem beim Goethe-Institut?
Überhaupt nicht. In Indien haben wir sechs Goethe-Institute und vier Goethe-Zentren, die gemeinsam jährlich inzwischen fast 200.000 Deutschprüfungen abnehmen, die Nachfrage ist außerordentlich groß. Aber der Bedarf ist größer. Deswegen versuchen wir jetzt, noch mehr Deutschlehrerinnen und Deutschlehrer in Indien auszubilden. Das Goethe-Institut ist durch die Kurs- und Prüfungsgebühren in einer finanziell angenehmen Lage.
Viele indischen Studenten wollen nach Deutschland. Profitiert Deutschland von den neuen USA-Restriktionen bei ausländischen Studenten?
In Deutschland studieren 50.000 Inderinnen und Inder. Das ist die größte nichtdeutsche Gruppe. Sie wächst jedes Jahr um ungefähr zehn Prozent. Allein in den ersten sechs Monaten dieses Jahres haben wir um 35 Prozent mehr Bewerbungen in deutschen Universitäten von indischen Studierenden. Das liegt tatsächlich vor allem an den USA, wo alles schwieriger wird. Auf Deutschland kommt da plötzlich viel zu.
Wir müssen aber aufpassen. Die Quantität ist eindrucksvoll, aber wir müssen die Qualität halten. In Berlin, Potsdam, Hamburg gibt es ein paar „hochschulähnliche“ Einrichtungen, die nicht nach deutschem Hochschulrecht registriert sind und e auf dem indischen Markt sehr aggressiv werben. Sie verschieben unsere Qualitätsstandards. Die Studierenden kommen über Vermittlungsagenturen, die zum Teil mit Fälschungen arbeiten, zahlen 8.000 Euro pro Semester und müssen deshalb als Essenslieferanten Geld verdienen. Die Studierenden erhalten dann Abschlüsse, die nicht deutschen Bildungsstandards entsprechen. Es gibt kein anderes Land in Europa mit so vielen indischen Studierenden, aber es ist in unserem Interesse, auch auf Eignung und Studiengang zu achten.
Also wirkt sich die Politik von Donald Trump zugunsten Deutschlands aus?
Wir werben gerade intensiv um Topleute, die die USA nicht mehr in Betracht ziehen, nach Deutschland zu lenken. Die Chancen für Deutschland sind gut. Warum finden wir es gut, dass 50.000 indische Studierende hier sind? Weil alle potenzielle Arbeitskräfte sind, die in Deutschland bleiben können. Zu 50 bis 70 Prozent bleiben sie. Das ist kein schlechtes Ergebnis, aber wir brauchen noch mehr Topleute. Wir arbeiten dran.
Wie blickt das riesige Land auf die aktuelle geopolitische Lage?
Indiens Hauptaugenmerk liegt klar auf den USA, die ihre wichtigsten und gleichzeitig forderndsten Partner sind. Besonders herausfordernd sind die Zoll-Auseinandersetzung und die laufenden Gespräche über ein Handelsabkommen – das ist kein Spaziergang. Indien kommt aus einer ganz anderen wirtschaftspolitischen Tradition und hat eine andere wirtschaftspolitische Herangehensweise. Es wird ihnen schwerfallen, die Forderungen der USA zu akzeptieren. Dennoch ist der Druck hoch. Indien sieht sich als aufstrebende Großmacht, als bevölkerungsstärkstes Land der Erde mit dem solidesten Wirtschaftswachstum und mit Bereichen, in denen die Inder Weltklasse sind, etwa in Digitalisierung und Dienstleistungen. Diese Selbstsicht definiert sich auch über die Partnerschaft mit den USA. Aber neben den USA ist das allergrößte Thema natürlich China.
Ist China für Indien Konkurrent oder Partner?
Das ist nicht so einfach zu beantworten. Viele Menschen in Indien haben erhebliche Vorbehalte gegenüber China. China ist für Indien die größte außenpolitische Herausforderung, gleichzeitig aber auch der größte Handelspartner.
Indien kann China nicht einfach ignorieren. Sie brauchen China, haben aber verschiedenste Konflikte, vor allem in Grenzfragen. Die Grenzkonflikte, insbesondere im Nordosten, sind ungelöst. Die indische Regierung wäre zwar nicht gegen eine harte China-Politik, aber sie darf auch nicht so hart sein, dass sie darunter leiden und es die eigene Wirtschaft schädigt. Ein Beispiel: 90 Prozent der Generika, die wir hier in der Apotheke erwerben, sind aus Indien. Aber davon basieren 90 Prozent auf Wirkstoffen aus China. Werden die Lieferketten unterbrochen, hätte Indien ein Riesenproblem. Ein Handelskrieg mit China wäre definitiv nicht im indischen Interesse.
Profitiert Indien von den Rivalitäten zwischen den USA und China?
Indirekt ja. Indien wird als Alternative gesehen – etwa für Produktionsstandorte oder Energiebeziehungen. Aber Indien ist vorsichtig. Die Regierung verfolgt einen strikt multipolaren Kurs: keine Allianzen, sondern bilaterale Beziehungen mit allen.
Wie positioniert sich Indien im Nahostkonflikt?
Offiziell ist die indische Regierung israelfreundlich. Sie hat großes Verständnis für Israel. Sogar rüstungstechnisch gibt es enge Verbindungen. Die Bevölkerung sieht Israel allerdings kritisch. Es gibt also eine Diskrepanz zwischen dem, was die Regierung sagt, und dem, was die Bevölkerung empfindet. Deshalb wird man auch wenige Statements zu Israel und Gaza finden.
Besteht die Gefahr, dass der Kaschmir-Konflikt eskaliert?
Die jüngste militärische Auseinandersetzung dauerte dreieinhalb Tage. Verhältnismäßig kurz, wenn man sich andere Krisen ansieht… Beide Seiten, Indien und Pakistan, waren schnell bemüht, die Lage zu beruhigen. Sie bewegen sich zwar nicht aufeinander zu, aber es ist bemerkenswert, dass sie nach dem Anschlag von Pahalgam in Nordindien beide klar gemacht haben, dass sie keine Auseinandersetzung wollen.
Der wirtschaftliche Schaden einer Eskalation wäre zu hoch. Das wurde beiden schnell klar, als besorgte Unternehmer fragten, ob man hier weiter investieren solle. Was aber jederzeit passieren kann, ist ein neuer Terroranschlag in Kaschmir. Das könnte die Lage schlagartig verändern.
Indien profitiert offensichtlich von den Sanktionen gegen Russland und verkauft russische Energie an die Sanktionssenderländer. Wie wird das in Delhi selbst gesehen?
Indien ist da sehr pragmatisch. Wo billige Energie herkommt, nimmt man sie. Indien hat stark von russischen Rabatten profitiert – aber sobald der Preis stieg, hat man sich wieder zurückgezogen. Der Pro-Kopf-Energieverbrauch ist niedrig, das Pro-Kopf-Einkommen auch. Es beträgt weniger als 3.000 US-Dollar im Jahr. Indien sagt: Wir können unseren Bürgern keine künstlich verteuerte Energie zumuten, indem wir sie teuer kaufen. Das muss man akzeptieren. Das ist bei uns anders.
Klar ist: Indien trägt die Sanktionen gegen Russland nicht mit.
Was ist derzeit die größte außenpolitische Sorge Indiens?
China. Die chinesisch-indische Grenze ist von Peking nicht anerkannt – insbesondere der Bundesstaat Arunachal Pradesh im Nordosten wird von China komplett beansprucht. Das ist aus indischer Sicht eine schwere Bedrohung der territorialen Integrität. China ist für Indien geopolitisch die härteste Nuss.
Und innenpolitisch?
Eindeutig die Arbeitslosigkeit. Indien hat zwar ein solides Wirtschaftswachstum von sechs bis sieben Prozent, aber das reicht nicht aus, um die vielen jungen Menschen in Beschäftigung zu bringen. Erst seit wenigen Jahren sinkt die Geburtenrate.
Hinzu kommen strukturelle Probleme, vor allem die Landwirtschaft: Über 50 Prozent der Menschen in Indien arbeiten auf Kleinstflächen, mit denen sie kein Geld verdienen können. Reformversuche gab es, aber sie sind am Widerstand der Bauern gescheitert. Auf die Dauer geht das nicht.
Wie ist das aktuelle Image Deutschlands in Indien?
Super. Die Inderinnen und Inder finden Deutschland besser als wir Deutschen selbst. Die klassische deutsche Soft Power, Effizienz, Technologie und Ingenieurwesen, Fußball und Autos, all das ergibt eine gute Grundhaltung gegenüber Deutschland. Das mag ein bisschen veraltet sein, aber man kann trotzdem gut damit arbeiten. Ein interessantes Netzwerk von indischen Influencerinnen und Influencern begleitet die Studierenden mit ihren Sorgen und Nöten und bringt ein realistisches Bild von Deutschland, wo die Menschen oft nicht gut gelaunt sind und das Essen nicht schmeckt… Der Umgang in Deutschland ist eben manchmal kühler, das ist ganz anders als in Indien.
Und umgekehrt: Welches Image hat Indien bei den Deutschen?
Es gibt in Deutschland eindeutig zu wenig Indien-Expertise. Man weiß viel zu wenig. Deshalb ist die Initiative des Hamburger Senats mit der India Week das Beste, was ich kenne. So kann man das riesige Land, das eine immer größere Rolle spielt, ans Publikum bringen. Es ist phänomenal, das einzige Ereignis dieser Art in Deutschland. Wir müssen uns in Deutschland mehr anstrengen, das Land besser zu erfassen. Viele andere europäische Länder sind da weiter als wir.
Indien entsendet keinen Korrespondenten nach Deutschland, und umgekehrt gibt es kaum deutsche Korrespondenten aus Indien. Vielleicht weiß man deswegen so wenig übereinander?
Viele Menschen in Deutschland haben ein altes, durchaus sympathisches Image von Indien und denken an tanzende Elefanten und bunte Trachten. Dabei hat Indien 30 Bundesstaaten mit verschiedenen Regierungen und Landtagen und ein sehr lebhaftes Unterhaus, darüber wird wenig geschrieben.