Suchen

diplo.news

news & views

diplo.news

Die Stadt und das Freiheitsgen

Die Aufmerksamkeit für die politisch schwierige Lage in Hongkong hat in Deutschland nach dem Ukrainekrieg schlagartig abgenommen. Wie die Diaspora versucht, gegen das Vergessen zu kämpfen
June 5, 2025
June 5, 2025

Von Gudrun Dometeit

Exil-Hongkonger erinnern am Brandenburger Tor in Berlin an den Jahrestag des Tiananmen-Massakers. Quelle: Andresen

Aniessa Andresen ist ganz zufrieden, eigentlich sogar positiv überrascht. Am Mittwoch abend hat sie gemeinsam mit etwa 30 anderen Hongkongern eine Mahnwache anlässlich des Jahrestages des Tiananmen-Massakers auf dem Frankfurter Römerberg abgehalten. Eine ähnlich große Anzahl hat in Berlin, Düsseldorf, Stuttgart und München an den brutalen Übergriff auf friedliche Demonstranten in Peking vor 36 Jahren erinnert. Die 50-Jährige ist überrascht, dass es immer noch Landsleute gibt, die sich trauen, an jedem 4. Juni eines Jahres auf die Straße zu gehen. „Die meisten haben Angst“, sagt Aniessa, Vorsitzende des Vereins der Hongkonger in Deutschland. In der ehemaligen britischen Kronkolonie, die China inzwischen mit eiserner Hand kontrolliert, war lange Jahre möglich, was in der Volksrepublik verboten war: Demonstrationen für Menschenrechte und Demokratie, auch das Gedenken an die Tiananmen-Opfer. Doch seitdem dort das Nationale Sicherheitsgesetz von 2020 alles unterbindet, was nach Regimekritik aussehen könnte, bleibt es an diesem Tag auch in Hongkong still und dunkel, die abendlichen Versammlungen von Zehntausenden mit Kerzen in der Hand im berühmten Viktoria Park finden nicht mehr statt.

Jetzt liegt es an den Hongkongern im Exil gegen das Vergessen anzukämpfen. Dabei sehen das nicht alle in der Diaspora so, die meinen, dass die Erinnerung an Tiannamen doch eher Sache der Chinesen in der Volksrepublik und außerdem viel zu politisch sei. Manche wollen aus Angst vor dem langen Arm Pekings lieber unterhalb des Radars bleiben. „Aber hier geht es doch um Menschenrechte und Gerechtigkeit.“, sagt Aniessa. „Jahr für Jahr seit 1989 haben die Hongkonger die Mahnwachen abgehalten, egal, ob es in Strömen regnete oder nicht. Sie gehören zur DNA der Stadt.“ „Vergesst es nie!“ rufen die Exil-Hongkonger den nachfolgenden Generationen zu. Sie müssten die Wahrheit erfahren.

Bei den Aktionen geht es auch um den Kampf gegen ein anderes Vergessen. 2014, als zigtausende Anhänger der Hongkonger „Regenschirmbewegung“ für Demokratie demonstrierten, ebenso wie beim Aufflammen der Proteste 2019, berichteten westliche Medien fast jeden Tag über die Wirtschaftsmetropole, Politiker kommentierten und verurteilten am laufenden Band, boten den Anführern der Bewegung Asyl an. Doch damit ist längst Schluss. Als sich vor einiger Zeit ein Schweizer TV-Journalist wegen einer Dokumentation über Hongkong bei Aniessa meldete, sei sie regelrecht gerührt gewesen, sagt sie. Sogar großformatige Anzeigen habe ihr Verein geschaltet, um Aufmerksamkeit zu wecken.  Vor allem in Deutschland – wo geschätzt bis zu 2000 Hongkonger leben – sei das Interesse gering, in Großbritannien oder den USA, wo deutlich mehr Hongkonger im Exil leben, etwas höher. Politik und Medien konzentrierten sich auf die Konflikte in der Ukraine und in Gaza, Deutschland sei zudem china-freundlicher als andere Länder.

Dabei ist die politische Lage in der einst so lebensfrohen Küstenmetropole unverändert dramatisch. „Die Demokratiebewegung ist tot, zu hundert Prozent“, betont Aniessa. Die meisten Organisatoren befinden sich entweder im Gefängnis oder außer Landes. Bei Demonstrationen müssen die Teilnehmer ein Namensschild tragen, „wie im Kindergarten“, sagt die 50-Jährige. Kunst-Aufführungen, bei der jemand in weißer Kleidung – früher ein Zeichen des Protests – erscheine, würden unterbunden, selbst alte Frauen mit einer Kerze in der Hand von der Polizei angehalten. Im weltweiten Ranking von „Reporter ohne Grenzen“ zur Pressefreiheit rutschte der Stadtstaat 2025 weiter auf Platz 140 ab, die Lage wird ähnlich wie in autoritären Regimen als „sehr schwierig“  beschrieben. „Ich kann nicht glauben, dass dies die Stadt ist, in der ich so lange gelebt habe. Sie war so frei!“, sagt Aniessa, die seit acht Jahren in Deutschland lebt und mit einem Deutschen verheiratet ist. Mit ihrem Sohn, der noch in Hongkong lebt, trifft sie sich gelegentlich außerhalb der Grenzen des Stadtstaats. Sie sei eigentlich lange kein politischer Mensch gewesen, habe zwar an den Demonstrationen teilgenommen aber ansonsten wie viele andere Hongkonger einfach nur die guten Lebensbedingungen genossen. Erst in Deutschland engagierte sie sich, gründete den Exilverein mit. Auch aus schlechtem Gewissen heraus. „Ich fühle mich irgendwie schuldig, weil ich mich nicht engagiert habe, während so viele junge Leute ihr Leben geopfert haben.“

Künftig will sich der Verein mehr damit beschäftigen, die Identität der Hongkonger im Exil, ihre Sprache, das Kantonesische, zu erhalten. Aniessas Worte klingen ein wenig resigniert. Die ausgebildete Lehrerin lehrt inzwischen selber Kantonesisch in Onlinekursen. Für ihre Heimat wollten sie aber weiterkämpfen, beteuert sie, der nächste Termin für „Kunst-Aufführungen“ der weltweiten Exilgemeinde Ende Juni steht bereits. Dann jährt sich die Übergabe Hongkongs durch Großbritannien an China zum 28. Mal, ein Tag, der in Peking in der Regel mit Pomp und Propaganda gefeiert wird.

Und wenn sich die Hongkonger etwas von der neuen Bundesregierung wünschen dürften? Sie sollte genauer hinsehen, wie Chinas kommunistische Regierung mit den eigenen Leuten umgehe. „Ihr dürft ihnen niemals trauen“, warnt die Hongkongerin. „Ein Land, zwei Systeme – nichts davon ist mehr übrig.“ Hongkong habe seine Autonomie und seine Freiheiten verloren. Das sei auch eine Warnung für Taiwan. Der Inselrepublik spricht Peking die Eigenständigkeit ab.

Quelle: Andresen

Erinnerung an alte Zeiten: Aniessa Andresen in Hongkong