
Der armenische Regierungschef Nikol Paschinjan sieht durch das im Sommer abgeschlossene Washingtoner Abkommen mit Aserbaidschan die Chance auf einen langfristigen Frieden in der Region. Das Abkommen biete die Gelegenheit, das Kapitel der langjährigen Animositäten endlich zu schließen, sagte Paschinjan am Dienstag bei einer Veranstaltung der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) in Berlin. Im Gegensatz zur Situation nach 1991, als die ehemaligen Sowjetrepubliken unabhängig wurden, gebe es jetzt die Erkenntnis und Wahrnehmung gemeinsamer Interessen. „Aber es braucht tägliche Pflege, um den Frieden zu bewahren.“ Wichtig sei jetzt, die Geschichte nicht zu wiederholen und ein ganz neues Kapitel für eine optimistischere, wohlhabende und friedvolle Zukunft zu eröffnen.
Das Abkommen – das unter der Ägide der USA im August abgeschlossen worden war – sehe die Souveränität der Staaten, die Akzeptanz der beiderseitigen Grenzen und die Absage künftiger Ansprüche durch Aserbaidschan vor. Auch die armenische Verfassung enthalte keine territorialen Ansprüche an Aserbaidschan, betonte der Ministerpräsident, der als Anführer der sogenannten samtenen Revolution gegen das alte Regime in Armenien bekannt wurde. Sollte das Verfassungsgericht seines Landes den Vertrag jedoch für nicht verfassungskonform erklären, werde er sich für die entsprechend notwendigen Änderungen einsetzen.
Die Vereinbarung in Washington sieht nicht nur die Klärung der Grenzfrage vor, sondern auch des seit mindestens 37 Jahren schwelenden Konflikts um die Exklave Bergkarabach in Aserbaidschan. Dort lebten bis zur gewaltsamen Räumung 2023 überwiegend christliche Armenier. Außerdem einigten sich die beiden südkaukasischen Staaten auf einen Transitkorridor von Aserbaidschan über armenisches Gebiet bis zur Exklave Nachitschewan, die an den Iran grenzt und mehrheitlich von muslimischen Aserbaidschanern bewohnt wird. Dadurch würde der Handel von Aserbaidschan in die Türkei und von dort weiter nach Zentralasien unter Umgehung Russlands und des Iran möglich. Der Korridor mit Eisenbahnstrecke und Gas- und Ölpipelines werde die Region noch mehr zusammenschweißen und Verbindungen untereinander schaffen, sagte Paschinjan. Armenien hoffe nun auf die lange erwartete Öffnung der seit 1993 geschlossenen Grenze zur Türkei.
Der Beitrittsprozess für eine EU-Mitgliedschaft sei Ansporn für sein Land, demokratische Reformen konsequent weiter zu verfolgen, es gehe dabei weniger um geopolitische Gründe. Aber selbst wenn es die Standards erreicht habe, es aber nicht zu einer Mitgliedschaft komme, werde Armenien etwas geschafft haben, nämlich ein höchst modernes Land geworden zu sein. Augenblicklich eruiere man Möglichkeiten einer sektoralen Integration im Rahmen der EU-Partnerschaft, zum Beispiel bei Digitalisierung und Energie. Um armenischen Geschäftsleuten eine leichtere Einreise in die EU-Staaten zu ermöglichen, sei aber die Liberalisierung des Visa-Regimes notwendig. Das wird auch Thema eines EU-Armenien-Gipfels im Mai kommenden Jahres sein.
Die Türkei-Expertin der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), Daria Isachenko, wies daraufhin, dass die Normalisierung der Beziehungen Armeniens zur Türkei indes noch längere Zeit dauern werde. So würden laut Umfragen 66 Prozent der Armenier ihre Beziehungen zum Nachbarland als schlecht bezeichnen, nur 30 Prozent als gut und 66 Prozent seien gegen eine Öffnung der Grenze. Auch zwischen diesen beiden Ländern schwelt ein langer historischer Konflikt. So weigert sich die Türkei, die Tötung von bis zu 1, 5 Millionen Armeniern im Ersten Weltkrieg 1915 als Völkermord anzuerkennen. Zudem unterstützte sie das über Kultur und Sprache verbundene Aserbaidschan seit Jahren im Bergkarabach-Konflikt.
gd