Kolumne von Michael Backfisch
Die verstörenden Bilder aus dem Gazastreifen haben die internationale Diplomatie aufgeschreckt: Spindeldürre Kleinkinder, die von ihren Müttern durch eine Trümmerwüste getragen werden. Babys ohne Milch. Ausgezehrte Männer und Frauen, die mit leeren Töpfen vor einer der wenigen Essensausgabestellen warten. Die Hungersnot in Gaza hat viele Gesichter. Die Unterernährung unter den rund zwei Millionen Bewohnern der Küstenenklave habe „alarmierende Ausmaße“, warnte die Weltgesundheitsorganisation (WHO).
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, der nicht erst seit seiner „Hirntod“-Äußerung über die Nato im November 2019 als Spezialist für disruptive Vorstöße gilt, machte den Anfang. Er werde Palästina bei der UN-Generalversammlung im September als Staat anerkennen, kündigte er an. Der britische Premier Keir Starmer reihte sich ein. Seine Regierung wolle dies ebenfalls tun, falls Israel nicht„substanzielle Schritte“ zur Verbesserung der Lage im Gazastreifen unternehme.
Und Bundeskanzler Friedrich Merz? Er erschöpft sich in Schaufenster-Politik und Moral-Appellen, die Israels Premier Benjamin Netanjahu schulterzuckend zur Kenntnis nimmt. Zwar löst die „Luftbrücke“ der Bundeswehr über Gaza positive Konnotationen aus – die „Rosinenbomber“versorgten 1948 und 1949 das von den Sowjets blockierte West-Berlin. Doch der international koordinierte Abwurf von Lebensmitteln und Medikamenten über dem weitgehend kaputtgebombten Küstenstreifen am Mittelmeer ist eine politische PR-Aktion zur Beruhigung des eigenen Gewissens. Alle Hilfsorganisationen im Gazastreifen sagen unisono, dass Airdrops“ ungenau und ineffizient seien und die Menschen am Boden gefährden. Merz räumt selbst ein: „Diese Arbeit mag humanitär nur einen kleinen Beitrag leisten, aber sie ist ein wichtiges Signal: Wir sind da, wir sind in der Region, wir helfen.“ In Wahrheit ist es eher ein Ausdruck von Verzweiflung, Hilflosigkeit und Ohnmacht.
Was die unter extremer Not leidende Bevölkerung im Gazastreifen braucht, sind 500 bis 600 Lastwagen pro Tag mit Wasser, Mehl, Brot und medizinischen Artikeln – so, wie dies vor dem grausamen Massaker der islamistischen Hamas am 7. Oktober 2023 der Fall war. Netanjahu hat nun zwar für einen kleinen Teil der Ladungen die Grenzen geöffnet. Aber es ist viel zuwenig.
Der Kanzler sendet wuchtige Ermahnungen Richtung Israel, die jedoch allesamt verhallen. Er fordert eine Verbesserung der humanitären Lage in Gaza, einen umfassenden Waffenstillstand, keine weiteren Vertreibungen der Palästinenser sowie die Freilassung aller Geiseln durch die Hamas, die zudem ihre Waffen niederlegen soll. Eine Kaskade des „müsste“, „sollte“, „wäre gut, wenn“. Ein Orkan moralisch unterfütterter Aufrufe, deren Lautstärke umgekehrt proportional zu ihrer Wirksamkeit ist.
Das Problem: Merz befindet sich in der Israel-Klemme. Seit Angela Merkel gilt für jede Bundesregierung das monumentale Bekenntnis, dass Israels Sicherheit „deutsche Staatsräson“ sei. Weniger pathetisch ausgedrückt: Deutschland hat aufgrund der Nazi-Verbrechen eine historische Verantwortung für die Sicherheit des jüdischen Volkes. Wird das Land angegriffen, leistet Deutschland Hilfe. Die Verpflichtung für die Sicherheit der Israelis ist jedoch kein Blankoscheck für die israelische Regierung. Und schon gar nicht für Premier Netanjahu, der unter dem Vorwand, die Hamas zu bekämpfen, die Tötung Zehntausender Zivilisten in Kauf nimmt. Der Gazastreifen ist heute eine Todeszone.
Doch Deutschland fühlt sich nicht nur der Sicherheit Israels, sondern auch dem Völkerrecht verpflichtet. Benutzt die israelische Regierung Hunger als Waffe zur Durchsetzung ihrer Interessen, darf auch ein deutscher Bundeskanzler dies kritisieren.Offene Worte zu Netanjahus Politik in Gaza und im Westjordanland sind das eine, Deutschlands Einstehen für die Sicherheit der Israelis das andere. Netanjahu versucht, jeden Dissens mit seinem Kurs als Gefährdung von Israels Sicherheit zu diskreditieren. In diese Falle darf Merz nicht tappen. Der Kanzler hat zwar Netanjahus Gaza-Politik immer wieder als „inakzeptabel“ bezeichnet, aber seine Wortwahl ist wattiert. Er bemüht sich um Zurückhaltung.
Das muss er nicht. Merz sollte Klartext reden. Denn in Netanjahus Kabinett sitzen Radikale, die selbst die völlig unzureichenden Hilfslieferungen für die Bevölkerung in Gaza strikt ablehnen. Der rechtsextreme Sicherheitsminister Itamar Ben-Gvir nannte den Schritt einen Schlag ins Gesicht israelischer Soldaten, die gegen die Hamas-Terroristen in Gaza kämpfen. Die Verteilung von Brot, Mehl und Getränken sei gleichbedeutend mit der „Lebenserhaltung des Feindes“.
Ben-Gvir operiert mit einer menschenverachtenden Brutalo-Logik. Der ultrarechte Finanzminister Belazel Smotrich ist auf der gleichen Linie. Beide wollen die Palästinenser aus dem Gazastreifen vertreiben und stattdessen jüdische Siedlungen errichten. Im Westjordanland decken Ben-Gvir und Smotrich gewaltbereite jüdische Siedler, die oft unter den Augen der israelischen Armee in palästinensische Dörfer einfallen und ihr Territorium erweitern. Sie arbeiten am Traum der Wiederherstellung von „Judäa und Samaria“, wie der biblische Name für das heutige Westjordanland lautete. Es ist ein Prozess schleichender Annexion und Vertreibung der Palästinenser.
In Wahrheit ist Netanjahu längst Geisel der Extremisten in seiner Regierung. Verteidigungsminister Israel Katz aus Netanjahus Likud-Partei wirbt für die Idee einer „humanitären Stadt“ auf den Trümmern von Rafah. Hier sollen zunächst 600 000 – später alle – Palästinenser in ein Auffanglager gezwängt werden. Sie dürfen nur hinein, aber nicht hinaus. Es wäre ein gigantisches Flüchtlingsquartier, das die Menschen zur „freiwilligen Ausreise“ zwingen soll. Dahinter steckt ein Plan systematischer Verelendung, der den Hungertod in Kauf nimmt.
Auch in Israel wird diese Politik massiv kritisiert. Zwei Menschenrechtsorganisationen haben den Kurs ihrer Regierung erstmals als „Völkermord“ gebrandmarkt. Das Forum B’Tselem spricht von einem „koordinierten Vorgehen, um vorsätzlich die palästinensische Gesellschaft im Gazastreifen zu zerstören“. Die Vereinigung Ärzte für Menschenrechte Israel wiederum macht Front gegen eine „bewusste und systematische Zerstörung des Gesundheitssystems des Gazastreifens“. Ex-Verteidigungsminister Moshe Ya'alon argumentiert ähnlich: „Der Weg, auf dem wir entlanggeführt werden, bedeutet Eroberung, Annexion und ethnische Säuberung.“
Das Problem Netanjahus ist, dass er über kein politisches Konzept für eine friedliche Koexistenz mit den Palästinensern verfügt. Er hat keinen Plan dafür, wie der Gazastreifen künftig regiert werden soll. Er folgt vielmehr einer Doktrin des „ewigen Krieges gegen die Feinde Israels“. Dass dabei mehr als 60 000 Palästinenser ihr Leben verloren haben, berührt ihn nicht.
Dies alles bedeutet keineswegs, dass die Gräueltaten der Hamas unterbelichtet werden sollen. Die Islamisten haben mit dem Massaker am 7. Oktober 2023 einen unverzeihlichen Tabubruch begangen. Es ist richtig, dass Israel die Terrormiliz ausschalten will. Sie darf in einer künftigen Regierung in Gaza keine Rolle spielen. Und es ist ebenso richtig, dass die Hamas mit der Niederlegung der Waffen und der Freilassung der Geiseln einen entscheidenden Schritt zur Entschärfung des Konflikts leisten könnte.
Aber das rechtfertigt nicht, dass die israelische Regierung Zehntausende Zivilisten als Kollateralschäden einpreist – durch Bombardierung, Entwurzelung, Vertreibung und Hungersnot. Ein Bundeskanzler darf und muss dies zur Sprache bringen. Und er sollte nicht müde werden, für eine Zweistaaten-Lösung einzutreten. Denn nur wenn die Palästinenser Raum für ein menschenwürdiges Leben haben, werden auch die Israelis langfristig in Sicherheit leben.
Vor Illusionen sei jedoch gewarnt: Internationale Sanktionen gegen Israel werden vermutlich wenig bringen. So hat die EU-Kommission empfohlen, die Teilnahme Israels am Forschungsförderungsprogramm „Horizon Europe“ teilweise auszusetzen. Derartige Schritte dürften Netanjahu in seiner Wagenburg-Mentalität eher noch bestärken. Wichtig ist jedoch, dass Europa mit einer Stimme spricht. Maßnahmen einzelner Länder wären nicht viel mehr als PR-Stunts in eigener Sache. Nach dem Motto: „Schaut, wir tun was.“