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Mit Bomben Heuschrecken bekämpfen

Ex-Chef der Münchner Sicherheitskonferenz, Wolfgang Ischinger: Vorfall in Polen zeigt vor allem den enormen Nachholbedarf der Nato in der Luftabwehr
September 13, 2025
September 13, 2025

Exklusiv-Interview von Gudrun Dometeit

Einer der profiliertesten Experten für Außenpolitik: Wolfgang Ischinger war u.a. Botschafter in Washington, Staatssekretär im Auswärtigen Amt sowie Chef der Münchner Sicherheitskonferenz und ist jetzt Vorsitzender von deren Stiftungsrat (Foto: securityconference.org)



In dieser Woche sind russische Drohnen in den polnischen Luftraum eingedrungen, und ein kleiner Teil davon ist von der polnischen Luftabwehr abgeschossen worden. Polens Regierungschef Donald Tusk hat gesagt, nie sei sein Land seit dem Zweiten Weltkrieg näher an einem Krieg wie jetzt. Das klingt dramatisch. Hat er recht oder übertreibt er mit dieser Formulierung?



Aus Sicht der polnischen Regierung ist die Situation ernst. Allerdings weiß bis zum jetzigen Zeitpunkt noch niemand so ganz genau, wie der Vorfall im Einzelnen zu erklären ist. Ob es möglicherweise Elemente von Fehlsteuerung gab oder die Drohnen absichtlich auf polnische Ziele gerichtet wurden. Aber in der Verteidigungs- und Außenpolitik muss man immer vom Worst Case ausgehen, also dass dies ein ernstgemeinter Test Russlands war, um zu sehen, wie und wie schnell wir reagieren. Was man in jedem Fall erkennen kann, ist, dass es der NATO einschließlich Polen ganz offensichtlich nicht viel besser geht als Deutschland, das ja bis zur Stunde über 0,0 Drohnenabwehr verfügt. Drohnen, die ein paar Hundert oder Tausend Euro pro Stück kosten, müssen mit Millionen teuren Kampfflugzeugen und entsprechend superteuren ballistischen Waffensystemen bekämpft werden. Man bekämpft Heuschrecken mit Bombern. Darin sehe ich überhaupt den großen Erkenntniswert dieses Ereignisses: Wir haben in der NATO anscheinend einen großen Nach- und Aufholbedarf, es der Ukraine gleichzutun. Sie hätte all diese Drohnen auf ihrem Gebiet runterholen können.



Von der Ukraine lernen heißt siegen lernen?



Ja, in diesem Fall schon, denn wir erleben seit vielen Monaten, dass die Ukraine von russischen Drohnenschwärmen mindestens 70 Prozent erfolgreich bekämpft. Die Ereignisse in Polen werden zu Recht den NATO-Rat und alle unsere Regierungen künftig sehr, sehr beschäftigen.



Einigen reichen die Antworten auf die offensichtliche Eskalation, die die NATO oder einzelne Nato-Staaten bisher gegeben haben, nicht aus. Alle haben die Verletzung des Luftraums verurteilt, Deutschland und Frankreich entsenden Eurofighter und Rafale, um die Luftabwehr an der NATO-Ostflanke zu stärken. Wie sehen Sie das? Wie sollte die NATO reagieren?



Zunächst mal, finde ich, ist das Notwendige und Richtige passiert. Polen hat völlig zu Recht Konsultationen der NATO nach Artikel 4 des Washington Vertrags erbeten. Es ist auch nicht falsch, wenn die NATO bzw. Ihr Generalsekretär bei Äußerungen, wie genau wir den Einsatzfall des Artikels 5 (Beistandsverpflichtung) definieren, eine gewisse Ambiguität zeigt. Es wäre ganz falsch, wenn wir jetzt so täten, als handle es sich um die Definition eines Lungenkarzinoms, das man klar erkennt und für das man eine bestimmte Therapie vorsieht. Wir wollen Russland ja nicht von vornherein mitteilen, ab wann wir was wie definieren. Wichtig ist es, nicht überzureagieren und gleich den Dritten Weltkrieg auszurufen, aber andererseits Moskau zu signalisieren, dass wir solche Ereignisse wie in Polen todernst nehmen.



Der ukrainische Präsident hat wiederholt Flugverbotszonen gefordert, und auch in Deutschland mehren sich Stimmen, die dafür plädieren,  die NATO-Luftüberwachung auf die Westukraine auszudehnen. Bedeutet das nicht eine direkte Kriegsbeteiligung ?




Man kann über solche Fragen diskutieren. Aber realistischerweise sollte die NATO zunächst dafür sorgen, ihren eigenen Luftraum zu schützen. Wir haben ja nun gesehen, dass sie das nicht hundertprozentig sicherstellen kann. Wenn wir dann den Eindruck haben, über diese Fähigkeit zu verfügen und das auch politisch durchsetzen zu können, ohne uns zur Kriegspartei zu machen, könnte man darüber nachdenken, ob die NATO beispielsweise eine in Richtung Polen fliegende Drohne schon auf ukrainischer Seite bekämpft. Das sind keine falschen Fragen, aber: First things first. Aber es stellen sich komplizierte Eskalationsfragen. Deswegen würde ich das Thema sehr sorgfälig angehen und nur, wenn es dazu innerhalb der NATO Konsens gibt.



Aber Sie würden es definitiv nicht ausschließen?



Ich würde es überhaupt nicht ausschließen, aber es sollten nicht einzelne Mitglieder, schon gar nicht die Bundesrepublik Deutschland, vorpreschen.



Die Rüstungsspirale dreht sich als Folge des Ukrainekrieges immer schneller. Was sagt der erfahrene Diplomat dazu, wann man da wieder herauskommt?  



Wenn man sich einem Waffenstillstand und danach möglichen Friedensregeln nähert, wird man sicher auch über vertrauensbildende Maßnahmen oder Rüstungskontrolle sprechen. Aber im Augenblick sehe ich nur ganz wenig Spielraum für den Beginn von vertrauensbildenden Maßnahmen. Man könnte natürlich in die Diskussion werfen, ob nicht die im Kalten Krieg bewährte Praxis zwischen NATO und der früheren Sowjetunion, bei Manövern gegenseitig militärische Beobachter einzuladen, als ersten Schritt wieder einführen könnte. Solche Vorschläge kann man machen, sobald man aus der jetzigen Totalkonfrontation herauskommt. Aber dafür ist ein Waffenstillstand absolute Voraussetzung.


Einen Waffenstillstand hat US-Präsident Donald Trump bisher nicht befürwortet.    


Ich glaube, dass sich in Washington allmählich die Erkenntnis durchsetzt, dass die bisherige Strategie Trumps Wladimir Putin durch freundliche Gesten oder Locken mit bilateraler Wirtschaftszusammenarbeit alleine nicht ausreicht. Sondern, dass man mehr Druck braucht. Die  USA könnten versuchen, diesen Druck bei uns abzuladen, indem sie die Europäer auffordern, auf den Kauf von Öl und Gas in Russland ganz zu verzichten. Nach dem Motto: Ihr wollt, dass wir etwas unternehmen, aber dann hört erstmal auf, den russischen Krieg zu finanzieren. Ich hoffe aber, dass die USA tatsächlich bereit sind, über Sanktionen nicht nur gegen Drittstaaten wie Indien, sondern auch gegen Russland selbst nachzudenken. Das komplette Sanktionspaket liegt ja im amerikanischen Senat quasi unterschriftsbereit parat.



Präsident Wolodymyr Selensky sagt, ein Waffenstillstand sei auch Voraussetzung für Sicherheitsgarantien an die Ukraine.



Aus meiner Erfahrung als deutscher Chefverhandler während der Balkankriege kann ich mir beim bestem Willen nicht vorstellen, wie eine Friedensvereinbarung ohne vorhergehende Waffenruhe zustande kommen sollte. Leider ist US-Präsident Trump auf Putins Haltung, man brauche keine Waffenruhe, sondern mache gleich Frieden, eingegangen. Das halte ich nicht  für einen erfolgversprechenden Weg. Wir brauchen einen Waffenstillstand.