Suchen

diplo.news

News and Views on Foreign Relations and Diplomacy

diplo.news

Wie Krieg und Frieden allmählich verschwimmen

Nur gezielter wirtschaftlicher und militärischer Druck auf Russland kann den Krieg gegen die Ukraine beenden. Oder ist doch nur eine Lösung auf dem Schlachtfeld möglich? Europäer und Amerikaner diskutierten auf einer Konferenz in Kiew
September 16, 2025
September 16, 2025

von Gudrun Dometeit

CNN-Moderator Fareed Zakaria (r.) befragt den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyi beim YES-Forum in Kiew, wie der Krieg mit der Ukraine beendet werden könnte. Nur durch Druck auf Putin, sagt Selenskij. "Ich bin bereit zu einem Treffen - face to face." (Foto: Viktor Pinchuk Foundation)

Mühsam bringt Alexander seine Worte heraus, das Laufen fällt ihm schwer, den rechten Arm kann er nicht mehr benutzen. Vor einem Jahr passierte es, der Ukrainer hatte gerade mit seinem Trupp Minen geräumt, als russisches Artilleriefeuer losbrach – in der Region Kupjansk, jener umkämpften, strategisch wichtigen Stadt im Nordosten der Ukraine, in die die russische Armee nun über einen Tunnel eingedrungen sein soll. Der 42-Jährige erlitt schwerste Kopfverletzungen, auf seinem Schädel zeichnen sich deutlich die Umrisse der großen Titanplatte ab, die die Ärzte ihm einpflanzten. „Sehen Sie“, sagt seine Mutter mit Tränen in den Augen und reicht den Besuchern ein Heft mit Schreibübungen, „er muss alles neu lernen, er versucht jetzt, mit der linken Hand zu schreiben.“  Sie besucht ihren Sohn in dem Kiewer Rehabilitationszentrum, in dem er sich seit einem Jahr befindet, so häufig wie möglich. Es ist eines von 20 Zentren im Land, das die ukrainische Viktor Pinchuk Stiftung für Kriegsverletzte errichtet hat. Pinchuk, einer der reichsten Männer der Ukraine und Schwiegersohn des ehemaligen Präsidenten Leonid Kutschma, machte sein Geld vor allem in der Metallindustrie. Seit dem Krieg setzt er es verstärkt für Wohltätigkeitszwecke ein.  

 

Alexander gehört zu den Ersten, die sich kurz nach der russischen Invasion im Februar 2022 freiwillig für die Armee gemeldet haben. „Am 1. März 2022 habe ich den Eid geleistet“,  erinnert er sich. Im Expresskurs von wenigen Wochen wurde er, im zivilen Beruf Fahrer, auf den militärischen Einsatz vorbereitet. Warum ausgerechnet er, Vater von zwei Kindern, so schnell zum Kriegsdienst antrat? „Ich wollte in einem freien Land leben.“ Er bereue nicht, sich gemeldet zu haben, beteuert er. Und ja, sagt er, um Worte ringend, er würde auch noch weiterkämpfen, wenn das möglich wäre. Und doch antwortet er auf die Frage nach seinem größten Wunsch für die Zukunft entschieden und mit einer für ihn jetzt ungewöhnlichen Schnelligkeit: „Ich möchte, dass dieser Krieg endet.“

Alexander liegt seit einem Jahr in einem Kiewer Rehabilitationszentrum für Kriegsverletzte. An der Front verletzte ihn russisches Artilleriefeuer schwer (Foto: Dometeit)

Wie das geschehen könnte, darüber diskutierten zur gleichen Zeit während des Besuchs im Reha-Zentrum, wenige Kilometer weiter östlich in einem Kiewer Luxushotel, Teilnehmer der Yalta European Strategy (YES) - auch eine Initiative des Oligarchen Pinchuk, die er 2006 ins Leben gerufen hatte. Seit Russland die Krim besetzt hält, findet das Treffen alljährlich nicht mehr im Sommerpalast der letzten Zaren in Jalta statt, sondern in Kiew. Die Konferenz soll der Annäherung der Ukraine an den Westen dienen – neben dem für Pinchuk nützlichen Networking. Eingeladen sind regelmäßig die Unterstützer der Ukraine aus Europa und den USA, eine Art Family-and Friends-Club. Im Laufe der Jahre haben die Auseinandersetzungen mit Russland Themen wie politische und ökonomische Reformen in der Ukraine verdrängt. Mit Günter Sautter, dem außenpolitischen Berater von Kanzler Friedrich Merz, nahm diesmal auch ein Vertreter des Bundeskanzleramts offiziell teil. Es ist als Signal gedacht, Deutschland will seine neue Entschlossenheit zur Unterstützung der Ukraine demonstrieren, die mancher in der Zeit der Ampelkoalition vermisste. Dafür lassen sich diesmal umso weniger US-Politiker blicken. Auch das ist ein Signal.

Wie also den seit dreieinhalb Jahren wütenden Krieg beenden, der täglich neue Opfer und mehr Zerstörung bringt? Wie den Druck auf Russland erhöhen, ernsthafte Verhandlungen aufzunehmen? Und wie Donald Trump überzeugen, den einige Teilnehmer der Konferenz als unabdingbar für einen Friedensschluss sehen, mit den Europäern an einem Strang zu ziehen? Die Kämpfe haben auf ukrainischer Seite mindestens 500.000 und auf russischer Seite bis zu einer Million Tote und Verwundete  gekostet. Wie immer in einem Krieg lassen sich die Zahlen nur schätzen, die Kriegsparteien geben die Verluste der jeweils anderen Seite deutlich höher an als die eigenen. Den Wiederaufbau des Landes bezifferte die ukrainische Regierung zuletzt mit 850 Milliarden Euro, von denen nach ihrer Meinung die Hälfte aus eingefrorenem russischen Vermögen bestritten werden sollte. Die Kosten des Krieges steigen in jeder Hinsicht. Vor einem Jahr, berichtete Roksolana Pidlasa, die junge Vorsitzende des Haushaltsausschusses im ukrainischen Parlament, habe Kiew 140 Millionen Euro pro Tag für den Krieg ausgegeben, jetzt seien es 175 Millionen Euro. Der Verteidigungsetat mache ein Drittel des Bruttoinlandsprodukts aus. Ein Rekordwert, selbst Israel gibt laut dem Friedensforschungsinstitut SIPRI nur rund neun Prozent, Russland rund sieben Prozent aus.

 

Der ukrainische Oligarch Viktor Pinchuk ist seit Jahren Gastgeber der YES-Konferenz. Hinter ihm sind die Fotos gefallener Ukrainer zu sehen (Foto: Viktor Pinchuk Foundation)

„Die russische Wirtschaft ist in einem desaströsen Zustand“, sagte Pinchuk, „nur superstarke Sanktionen und superstarke Unterstützung für uns helfen dem Feind, die richtige Entscheidung zu treffen.“  Auch der deutsche Generalmajor Christian Freuding, designierter Heeresinspekteur und bislang Leiter des Sonderstabs Ukraine im Verteidigungsministerium, zeigte sich überzeugt, dass man Russland mit militärischen, finanziellen und ökonomischen Mitteln an den Verhandlungstisch zwingen könne. Aber, warnte der französische Kurzzeit-Premier Gabriel Attal, jetzt Vorsitzender der französisch-ukrainischen Freundschaftsgruppe im Parlament, es dürften nicht einfach nur mehr Sanktionen beschlossen werden. Neue Maßnahmen müssten auch effizienter werden, dorthin zielen, wo es Russland am meisten schmerze – auf den Energiesektor, auf Raffinerien, die Tankerschattenflotte, Staaten, die Öl und Gas von Russland kauften. Die bisherigen Sanktionen der Europäischen Union, darunter Ölpreisdeckel und die Sanktionierung einzelner Tanker, zeigen sich offenbar weitgehend wirkungslos.

 

„Der Krieg wird enden, wenn Russlands Einnahmen aus Öl und Gas versiegen“, bestätigte auch Timofiy Mylovanov, Präsident der renommierten Kyiv School of Economics. Das dürfte allerdings kompliziert werden, denn davon müssten innerhalb der EU auch Ungarn und die Slowakei überzeugt werden, die nach wie vor Öl und Gas aus Russland über die Druschba-Pipeline beziehen. Ihre Importe sind indes gering gegenüber den Mengen, die die Türkei, Indien und China aus Moskau beziehen. Sanktionen will sich US-Präsident Donald Trump jedoch nur anschließen, wie er inzwischen erklärte, wenn sich auch alle Nato-Staaten anschließen und die EU sich zudem zu hohen Zöllen gegenüber Indien und China bereit erklärt. Die Erfüllung beider Forderungen gilt als unwahrscheinlich, und der Verdacht liegt nahe, dass Trump sie nur als Ausrede nutzt, um nicht gegen Russland vorzugehen.

 

Die Europäer müssten gegenüber Trump entschlossener auftreten, rät ein US-Diplomat, der in der ersten Trump-Administration diente, im Gespräch mit diplo.news. „Ihn zu fragen, bitte, was würden Sie denn machen …funktioniert nicht. Trump hasst es, Verantwortung zu übernehmen. Die Europäer müssen klar sagen, was s i e machen wollen. Dann kann er sich anschließen oder auch nicht.“ Der Historiker Timothy Snyder erklärte noch entschiedener: „Auf Trump zu warten, ist reine Zeitverschwendung.“ Und wunderte sich, warum die Europäer ihre ökonomische Stärke noch immer nicht in politische und militärische Macht umgewandelt haben.

 

Der bisherige Leiter des Ukraine-Stabes in der Bundeswehr, Christian Feuding (r.) und Andrius Kubilius, EU-Kommissar für Verteidigung und Raumfahrt, lauschen der Diskussion. (Foto: Viktor Pinchuk Foundation)

Diese bereiten allerdings gerade vor, was bisher als Tabu betrachtet und nun als scharfes Druckmittel für Russland dienen soll: Reparationsanleihen auf russische Zentralbankreserven in Höhe von insgesamt 255 Milliarden Euro, die zum größten Teil auf Konten in Europa bzw. der EU schlummern. Gegen eine Konfiszierung des Geldes sprechen juristische und – unter anderem aus Sicht der Bundesregierung – ökonomische Gründe, weil der europäische Markt seine Reputation als sicherer Anlagestandort verlieren könnte. So wurden bisher nur die Zinsen für Hilfen an die Ukraine verwendet. Nach der nun kursierenden neuen Idee würden die Reserven in neuen Depots angelegt, Russland bliebe rechtlich Eigentümerin des Geldes. Europäer, Briten und G7-Staaten könnten darauf aber Anleihen für die Ukraine aufnehmen. Das Geld würde nur zurückgezahlt werden, wenn Russland Reparationen für die Kriegsschäden zahlt. Bedenken hat bislang offenbar vor allem Belgien, wo der Finanzdienstleister Euroclear den größten Teil des russischen Staatsschatzes verwaltet.  

Während Europäer und Amerikaner noch über Optionen diskutieren, schaffen Russland und die Ukraine allerdings längst Tatsachen, auf jeden Fall militärische. Moskau bombardierte in den vergangenen Tagen ein Regierungsgebäude sowie die EU-Vertretung in Kiew und schickte offenbar ein Drohnengeschwader über die polnische Grenze, ebenso wie Anfang der Woche in den rumänischen Luftraum und über den Warschauer Regierungspalast. Russland traktierte die Ukraine alleine im September mit 3.500 Drohnen und 190 Raketen. Umgekehrt zerstörte Kiew am Wochenende in Kirischi in der Region Leningrad eine der größten Raffinerien des Landes, bombardierte zuvor in einem der bisher massivsten Luftangriffe mit Langstrecken-Drohnen eine Pumpstation in Primorsk, von der aus Rohöl in den Hafen Ust-Luga transportiert wird. Von dort wird es auf Tanker der sogenannten russischen Schattenflotte zur Fahrt über die Ostsee verladen. Zwei von ihnen wurden dabei laut russischen Berichten getroffen. Bei Sprengstoffanschlägen der Ukrainer auf russische Eisenbahnstrecken ebenfalls in der Nähe von Wladimir Putins Heimatstadt St. Petersburg starben mindestens drei Menschen.  

Mut wird zur Branding-Marke - Tafeln in der ukrainischen Staatsbahn (Foto: Dometeit)

Der Krieg zwischen Russland und der Ukraine gilt schon lange als Exempel, wie die Schlachten der Zukunft aussehen können. Mindestens 75 Prozent der eingesetzten Waffen sind mittlerweile Drohnen. Den Tagesbedarf beziffert die Ukraine mit 1.000, den eigene Produktionsstätten mittlerweile zum großen Teil decken können. Kaum ein Land hat nun soviel Erfahrung in elektronischer Kriegsführung wie die Ukraine. Aber auch Russland lerne schnell und passe sich den veränderten Verhältnissen an, sagen ukrainische Militärs. Die Russen analysierten sorgfältig, seien gut in strategischer Planung. Die eigene Stärke bestehe jedoch in der Kreativität der ukrainischen Armee. „Den Mythos des unbesiegbaren Russlands haben wir jedenfalls widerlegt“, sagt ein Oberst.

Teile des neuen Haushalts will Kiew in neue Abfangdrohnen investieren, als günstige Alternative zu teuren Patriot-US-Abwehrsystemen gegen russische Shahid- oder Geran-Drohnen, die in den polnischen und rumänischen Luftraum eindrangen. Dass Russland die Nato damit auf ihre Reaktionsfähigkeit testen wollte, steht für alle YES-Diskutanten fest. Dass diese nicht überzeugend war, sagen viele hinter vorgehaltener Hand. Die polnische Luftabwehr wehrte gerade mal vier von 19 Drohnen ab. Deshalb kann die Integration des westukrainischen Luftraums in die Nato-Luftabwehr nach den Worten von Wolfgang Ischinger, des früheren Vorsitzenden der Münchner Sicherheitskonferenz, auch keine Antwort auf Moskaus Provokation sein. Eher solte die Nato von der Ukraine lernen. „Drohnen, die ein paar Hundert oder Tausend Euro pro Stück kosten, müssen mit Millionen teuren Kampfflugzeugen und entsprechend superteuren ballistischen Waffensystemen bekämpft werden. Man bekämpft Heuschrecken mit Bombern. Darin sehe ich überhaupt den großen Erkenntniswert dieses Ereignisses: Wir haben in der Nato anscheinend einen großen Nach- und Aufholbedarf, es der Ukraine gleich zu tun. Sie hätte diese Drohnen auf ihrem Gebiet runterholen können.“  

 

Wenn man den Geist des Expertentreffens zusammenfassen sollte, auch wenn es nur einen Ausschnitt des Meinungsspektrums zeigt, dann war er nicht von besonderem Optimismus geprägt. Ein baldiger Frieden ist nicht in Sicht, die Strategien von Europäern und Amerikanern sind unklar und stimmen nicht überein, oder um es mit den Worten von Finnlands Präsident Alexander Stubb zu sagen, die Grenzen zwischen Krieg und Frieden verschwimmen allmählich. Der frühere litauische Außenminister Gabrielius Landsbergis erklärte sogar: „Wir müssen uns eingestehen, dass dieser Krieg nicht auf diplomatischem Wege, sondern nur auf dem Schlachtfeld gelöst werden kann.“  Auf vereinzelte Fragen, ob die Ukraine um des Friedens willen Konzessionen wie den Verzicht auf Territorium eingehen würde, hieß es einhellig nein. Das empfinde sie als Verrat, sagte die junge Kommandantin einer Drohneneinheit. Ukrainer wie ihr Lebenspartner seien dann umsonst gestorben. Und im übrigen könne man Putin nicht trauen, er werde trotzdem wieder losschlagen.

 

Legt man die Erkenntnisse des österreichischen Politikwissenschaftlers Friedrich Glasl zum Ablauf von Konflikten zugrunde, befindet sich der Russland-Ukrainekrieg jetzt in einem gefährlichen Stadium, nämlich fast am Ende des von ihm entwickelten Phasenmodells, in dem es um die gegenseitige Zerstörung von vitaler Infrastruktur geht, der Westen immer mehr hineingezogen und ein Zurück immer schwieriger wird.  

Von der Blumenkünstlerin zur Drohnenunternehmerin: Kseniia Kalmus wollte ihrem Land helfen und sammelt nun Spenden zur Drohnenproduktion (Foto: Dometeit)

Wie auch immer sich die Politik entscheidet, der Krieg hat das Leben vieler Ukrainer ohnehin komplett verändert. Nicht nur das des früheren Fahrers Alexander, der von seinen schweren Verletzungen gezeichnet ist. Am Rande der YES-Konferenz demonstrierten einige Ukrainer vor Wänden mit sorgfältig gestapelten Mini-Drohnen, wie man die Wunderwerkzeuge dieses Krieges zusammenbaut. Alle arbeiten ehrenamtlich für ihre Chefin Kseniia Kalmus, die vor einem Jahr die Firma Klyn gegründet hatte. Statt Blumen sammelt die 37-jährige Floristin nun Spenden, um damit Komponenten für die Flugkörper einzukaufen und sie anschließend montieren zu lassen, sowie für Kampf-, Aufklärungs- oder Transportdrohnen, die Medikamente, Wasser und Blutkonserven an die Front bringen. Die Bestandteile stammen alle aus der Ukraine, nur die Kamera aus China. Der Übergang von der Arrangeurin künstlerischer Bouquets und Liebhaberin schöner Pflanzen zur Produzentin potenziell tödlicher Fluggeschosse kommt Kalmus selbst ein wenig unwirklich vor. „Ich habe sogar eine Psychologin um Rat gebeten“, sagt sie. Die riet ihr, die Herstellung der Drohnen auch als eine Art Kunst zu sehen, Kunst, die ihr Land retten soll.