Ein historischer Termin für Journalisten und Diplomaten, die am korrespondenten.cafe mit Horst Teltschik und Michael Gehler teilgenommen haben: Teltschik ist 85 Jahre alt und war als außenpolitischer Berater von Bundeskanzler Helmut Kohl eng in die Gespräche mit Michail Gorbatschow und den Prozess der Wiedervereinigung eingebunden. Der spätere Vorsitzende der Münchner Sicherheitskonferenz hat zusammen mit Prof. Michael Gehler sein Tagebuch ausgewertet und das 1000-Seiten-Buch „Die 329 Tage zur deutschen Einigung“ verfasst. Teltschik nahm ausführlich zum Konflikt zwischen Russland und Europa Stellung, hält Gespräche mit Putin für unverzichtbar und vermisst Führungsleute in Europa. diplo.news dokumentiert die wichtigsten Teile des Gesprächs.
Teltschik: „Wie kommen wir raus aus der Kriegsgefahr?“
Ich habe mein Kommen zum korrespondenten.cafe gerne zugesagt, weil mir ein Thema auf den Nägeln brennt, nämlich wie kommen wir raus aus dieser schwierigen Situation einer unmittelbaren Kriegsgefahr? Wie beenden wir das? Wie können wir eine friedliche Lösung erreichen? Wie können wir Präsident Putin gewinnen, eine friedliche Lösung zu akzeptieren und eine gesamteuropäische Friedensperiode einzuleiten? Das ist die Schlüsselfrage unserer Tage.
Putin hatte mich einmal, als ich nicht mehr im Amt war, gebeten, ihm beratend für Gespräche zur Verfügung zu stehen. Da musste ich nicht lange nachdenken, ich fand es spannend, dass er Interesse hatte. Das erste Gespräch, das ich mit ihm in Moskau hatte, betraf die Vorbereitung seiner Rede im Deutschen Bundestag. Auf der Rückfahrt zum Flughafen fragte mich sein Mitarbeiter, ob ich auch eine schriftliche Vorlage schicken könnte, was ich auch gemacht habe. Ich habe einige Gedanken zu Papier gebracht und ihm vermittelt. Natürlich habe ich dann seine Rede im Bundestag mit Spannung verfolgt.
Er hat vor allem eines aufgegriffen, die Frage, wie er zukünftig die Rolle Russlands in Europa einordnet und ob sich Russland als Europa sieht oder sich nach Asien orientiert. Seine Verortung war eindeutig: Russland ist Teil Europas.
Nicht aufgegriffene Themen
Putins damalige Rede und seine Gedankenführung wurden nicht aufgegriffen, aber auch nicht die Rede von Bundeskanzlerin Merkel, die unmittelbarvor Putin gesprochen hatte. Die Bundeskanzlerin hat nämlich auch einen neuen Vorschlag an Russland gemacht und hat signalisiert, wie die Beziehungen zwischen NATO und Russland weiter zu entwickeln seien. Aber das Forum hat dasThema nicht aufgegriffen. Keiner hat sie gefragt, was sie darunter versteht und wie sie sich das vorstellt. Und keiner der Teilnehmer hat Putin gefragt, was er zu dem neuen Vorschlag der Bundeskanzlerin zu sagen hat. Daher wurde das Thema sehr einseitig kommentiert – als Beginn eines neuen kalten Krieges.
Ein Jahr später hat Dmitri Medwedew, der Interimspräsident, in Berlin eine Rede im Hotel Adlon gehalten, in der er auch versucht hat, die Beziehungen zur NATO und Deutschland weiter zu entwickeln. Auch da ist keine Antwort der deutschen Politik erfolgt. Ich behaupte deshalb, dass hier Chancen vergeben wurden. Wie weit sie hätten realisiert werden können, wissen wir natürlich nicht.
Droht tschetschenisches Muster?
Zur heutigen Situation, wo wir in der Ukraine der Krieg haerrscht und auch bei uns aufgerüstet wird: Was ist die Perspektive? Um mit dem Negativsten zu beginnen, es könnte eine brutale Entwicklung geben, wie wir sie in Tschetschenien erlebt haben. Die Hauptstadt Grosny wurde erbarmungslos zerbombt. Können wir ausschließen, dass dies mit der Hauptstadt der Ukraine in der letzten Minute nicht ebenfalls passiert? Ich persönlich schließe das nicht aus.
Und wenn es passiert, was geschieht dann auf Seiten des Westens? Oder gibt es eine Chance, zwischen Russland und den Europäern und der NATO doch noch zu einem Modus vivendi zu kommen?
Deshalb bin ich nach wie vor für Gespräche, weniger zwischen Trump und Putin, aber zwischen vernünftigen Europäern und Putin.
Sondieren, abtasten, reden
Wenn wir kurz auf die Nachkriegsgeschichte schauen, wiehaben die Amerikaner auf die Kulturrevolution in China reagiert? Sie haben Henry Kissinger zum Sondieren hingeschickt. Oder denken Sie an Willy Brandt und an die Funktion von Egon Bahr, der im Prinzip auch nichts anderes gemacht hat als sondiert, abgetastet und erste Gespräche geführt. Ich würde alles versuchen, um zu einem vernünftigen Gespräch zusammenzukommen. Gerhard Schröder hätte diese Rolle haben können, aber er hat sich aber selbst sofort präsentiert. So geht das aber nicht.
Es muss jemand geben, der im Auftrag des Bundeskanzlers vertrauliche Gespräche führt. Ich halte das für Vorbildaktionen, auch wenn es unangenehm ist. Ich habe immer zu Helmut Kohl gesagt, wir können uns die Partner nicht aussuchen. Man muss die Typen doch kennen lernen, muss sie erleben, muss bei Ihnen einmal irgendwo ansetzen. Plötzlich kann sich etwas ergeben. Wie schaffen wir es also, dass wieder Gespräche zustande kommen und Lösungen diskutiert werden?
Gespräch mit Russland unverzichtbar
Ich bin der Meinung, dass wir Wege suchen müssen, um bilateral wie multilateral das Gespräch mit Russland wieder in Gang zu bringen. Ich halte das für unverzichtbar. Es geht nicht darum, ob wir Putin mögen oder nicht. Die Frage ist: Wie können wir es erreichen? Ich würde heute versuchen, eine Gesprächsebene zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Russland, zwischen der EU und Russland und der NATO und Russland zu entwickeln.
Jemand muss Führungsrolle übernehmen
Wir müssen innerhalb der EU zusammenarbeiten. Und wenn das mit Ungarn oder anderen nicht gemeinsam geht, brauchen wir einen Nukleus an Führungsleuten, die sagen, wir übernehmen jetzt inhaltlich und faktisch die Führung. Who takes the Lead in der Europäischen Union heute? Einen Nukleus als treibende Kraft brauchen wir unbedingt. Ideal wären Deutschland, Frankreich und Polen, was aber auch immer schwieriger wird.
Unser Bundeskanzler müsste jetzt überlegen, mit wem er am erfolgreichsten zusammenarbeitet. Wenn es da nicht funktioniert, muss er auch außerhalb der EU-Institutionen eine Art Parallelorganisation haben. Das muss man taktisch klug und in der passenden Zeit machen. Aber man braucht so eine Driving Force, jemanden, der die Führungsrolle übernimmt.
Was haben Merkel und Putin verabredet?
Wir hatten ja eine Bundeskanzlerin, die einen Rekord an Gesprächen mit Präsident Putin aufgestellt hat. Wir haben bis heute nicht erfahren, was sie eigentlich miteinander besprochen haben. Was waren die Vorschläge? In welche Richtung geht man zusammen? Oder schlägt man sich? Auf die Substanz reduziert: Das dürfte verdammt dünn sein.
Ich habe Putin gefragt, was er von der Bundeskanzlerin halte. Anschließend habe ich ihr einen Brief geschrieben und berichtet, was er über sie gesagt hat. Das war nämlich außerordentlich positiv. Aber ich habe keine Antwort bekommen. Da rief mich ein Mädchen aus dem Kanzleramt an: „Die Bundeskanzlerin bedankt sich.“ Was soll das? Vielleicht hätte man darüber kurz telefonieren können.
Der Historiker Michael Gehler über Teltschiks Beitrag zur deutschen Einheit
"Das Tagebuch ist wie ein Schlüsselloch, durch das man sieht, wie Horst Teltschik am Tisch des Bundeskanzlers steht und bespricht, was man jetzt tun soll. Wir erleben die Atmosphäre und die Stimmung im Kanzleramt mit." Der Historiker, Professor an der Universität Hildesheim, über seien Arbeit mit Teltschiks Tagebuch: „Das ist für Liebhaber von Details ein Festessen, für mich als Historiker wie Weihnachten.“
Gehler: Kohl erschöpft und niedergeschlagen
Aus dem Tagebuch geht hervor, dass Helmut Kohl nicht dieser unentwegte Gipfelstürmer auf dem Weg zur Deutschen Einheit war, sondern dass er auch Phasen hatte, in denen er gezögert hat, unsicher, sogar niedergeschlagen und aufgrund der sich kataraktisch entwickelnden Ereignisse erschöpft war.
In Horst Teltschik hatte er jemanden an der Seite, der ihn angestoßen, angespornt, ermutigt und auch bei Gegenwind Position gehalten hat. Sogab es beispielsweise nach der Rede im Bundestag vom 28. November 1989 (mit dem Zehn-Punkte-Plan) scharfen Gegenwind. Eduard Schewardnadse, der damalige sowjetische Außenminister, gab zu erkennen, das Verhalten des deutschen Bundeskanzlers sei schlimmer als jenes von Adolf Hitler. Auf diese Bundestagsrede folgten viele skeptische und negative Reaktionen. Doch Teltschik bestärkte den Kanzler, bei seiner Linie zu bleiben.
Sehr kurzes Zeitfenster
Das Finale mit den Zwei-plus-Vier-Verhandlungen war dramatisch. Wir waren in der historischen Forschung lange davon ausgegangen, dass mit der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion vom 1. Juli 1990 und mit dem deutschen Staatsvertrag die Sache gelaufen und damit faktisch die inneredeutsche Einheit vorweggenommen war. Auch die Volkskammerwahl vom März 1990 war ein Plebiszit für die deutsche Einigung und bedeutete faktisch das Ende der reformorientierten Regierung von Hans Modrow.
Aber das Finale wurde doch noch sehr spannend, weil es wiederholt erhebliche sowjetische Kreditforderungen gab, die Bonn oft an die Grenze der Möglichkeiten führten. Die Sowjetunion steckte in diesen Jahren 1989, 1990 und 1991 in einem dramatischen Existenzkampf. Die Frage war, ob die Sowjetunion überhaupt noch in der Lage sei, die eigene Bevölkerung mi tLebensmitteln zu versorgen. In dieser Situation muss man ganz klar sagen: Es war das sehr kurze Zeitfenster zwischen Februar 1990 und September 1990, wo das Eisen geschmiedet werden konnte.
Denn anschließend kam der Zweite Golfkrieg, Saddam Hussein überfiel Kuwait, und das amerikanische Interesse wendete sich von der deutschen Frage ab. Diesen Kontext muss man sehen. Es gab nur dieses Zeitfenster! Horst Teltschik war als engster Berater von Helmut Kohl ein Mann, der mit Hartnäckigkeit und Insistenz, aber auch mit Kompetenz agiert hat. Das hat Kohl sehr geholfen, den Durchbruch zu schaffen. In wichtigsten Momenten der Entscheidungsfindung hat Teltschik eine große Rolle gespielt.
Portugalow als „Wetterfahne aus Moskau“
Ein Beispiel für einen dieser Momente: Wie reagiert man auf einen sowjetischen Emissär namens Nikolai Portugalow, Berater Gorbatschows und früherer sowjetischer Botschafter in Bonn, der am 21. November auftaucht und Herrn Teltschik gegenüber Gedanken entwickelt, die der nur als sensationell empfinden konnte? Portugalow war für Teltschik eine Art Wetterfahne aus Moskau.So erlebte er bei jedem Treffen ein Stück der aktuellen Diskussion innerhalb der sowjetischen Führung. Portugalow hatte eine mehrseitige handschriftliche Aufzeichnung dabei, die ihm Teltschik einfach abgenommen und Kohl vorgelegt hat. Sieben Tage später hielt Kohl im Bundestag seine bekannte Rede mit dem Zehn-Punkte-Plan.
(Aufgezeichnet von Ewald König)
Das korrespondenten.cafe wurde in voller Länge als Sonderausgabe der Talkshowreihe diplo.international im Haupstadtsender TV Berlin ausgestrahlt. Hier der Link zum YouTube-Video: https://www.youtube.com/watch?v=Y7iFESFMIfM
Das Buch: "Die 329 Tage zur deutschen Einigung / Das vollständige Tagebuch mit Nachbetrachtungen, Rückblenden und Ausblicken" von Horst Teltschik, herausgegeben und eingeleitet von Michael Gehler, Vandenhoeck & Ruprecht Verlage, 992 S., ISBN 978-3-525-30340-5, 89 €.