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"Wenn ich Bundeskanzler wäre, würde ich die Lage selber erkunden"

Klaus von Dohnanyi plädiert für die Berücksichtigung russischer Sicherheitsinteressen und eine entschlossene Initiative der Bundesregierung zur Lösung des Ukrainekonflikts. Zusammen mit dem Brigadegeneral Erich Vad hat der Sozialdemokrat gerade ein neues Buch geschrieben
October 7, 2025
October 6, 2025

Interview von Gudrun Dometeit

Erich Vad (li.) und Klaus von Dohnanyi kritisieren die Einseitigkeit der Ukrainepolitik (Foto. Westend Verlag)

Beide sind meinungsstark, streitbar und nicht unumstritten. Als Autoren haben sie nun ein gemeinsames Buch geschrieben: Klaus von Dohnanyi, 97, der jahrzehntelang die Politik der Bundesrepublik in verschiedenen Funktionen – u.a. als Staatsminister im Auswärtigen Amt und als Erster Bürgermeister Hamburgs – mitprägte, und Erich Vad, 68,  langjähriger Gruppenleiter im Bundeskanzleramt und militärpolitischer Berater von Bundeskanzlerin Angela Merkel. In "Krieg oder Frieden" – das Buch ist in Form eines moderierten Gesprächs geschrieben – plädieren sie für mehr Dialog mit Russland. Warum er selber zuerst nach Washington und dann nach Moskau fahren würde, für wie wahrscheinlich er einen Angriff Russlands auf die Nato hält und welche Fehler der Westen im Ukrainekonflikt macht, erklärt Dohnanyi im Interview. Er selber erlebte die Schrecken des Zweiten Weltkrieges unmittelbar: Als 16-Jähriger wurde er im Januar 1945 in ein Kampfbataillon des Reichsarbeitsdienstes einberufen, seinen Vater Hans von Dohnanyi richteten die Nationalsozialisten in den letzten Kriegstagen als Widerstandskämpfer im KZ Sachsenhausen hin.

Kürzlich sind – mutmaßlich – russische Drohnen in den polnischen und in den rumänischen Luftraum eingedrungen, russische Kampfjets haben sich minutenlang im estnischen Luftraum aufgehalten, ein russischer Aufklärungsflieger ist über eine deutsche Fregatte in der Ostsee geflogen. Solche Vorfälle häufen sich. Ist das ein Zeichen von zunehmender Aggressivität Russlands?      

   

Der Überflug der Kampfjets ist sogar nach Auskunft von westdeutschen und amerikanischen Militärs ok gewesen, denn der Korridor von Russland in die Exklave Kaliningrad entlang dem estnischen Luftraum ist schmal, anders können russische Jets nicht dorthin gelangen. Das haben sie schon immer so gemacht. Im Falle Polens wissen wir zumindest offiziell nicht, ob es russische oder nicht auch ukrainische Drohnen gewesen sind.

   

Meinen Sie etwa, es könnten auch sogenannte False-Flag-Aktionen der Ukraine gewesen sein? Man lenkt den Verdacht auf jemand anderes, eben auf Russland?

   

Das halte ich für möglich. Die Ukraine ist nicht aufrichtig. Sie hat unbestreitbar die Gaspipelines Nordstream 1 und 2 in die Luft gejagt (im September 2022, d. Red.). Die Beteiligten lassen sich identifizieren. Die Ukraine belügt uns hier die ganze Zeit.

Aber wie kommen Sie darauf?

   

Weil sie uns zum Beispiel erzählt, Wladimir Putin wolle uns angreifen. Wofür es keine Belege gibt. Neulich gab es dazu eine sehr kluge Antwort von Donald Trump. Als Wolodymyr Selenskyj ihm sagte, ‚Herr Präsident, wir verteidigen in der Ukraine ja auch die USA‘, hat er schlicht geantwortet: ‚Uns verteidigt der Atlantik‘. Also, ich bin nicht sicher, wer die Drohnen wohin geschickt hat. Einer Ukraine, die bereit ist, unsere Infrastruktur zu sprengen, traue ich auch zu, Drohnen über Polen zu schicken.

   

Mit welchem Ziel?

   

Um uns noch mehr zu verunsichern. Außerdem hat Russland meines Erachtens kein Interesse daran, in einen Konflikt mit der Nato hineingezogen zu werden. Das Land wird ja nicht mal mit der Ukraine fertig, und es weiß, wie stark die Nato ist.  

   

Trotzdem sind die Reaktionen auf die Vorfälle zum Teil sehr heftig. In Unionskreisen diskutiert man den Abschuss von russischen Kampfjets oder Drohnen. Nach anderen Vorschlägen soll der Spannungsfall ausgerufen werden, was sofort eine Wehrpflicht auslösen würde, oder die Moskauer U-Bahn lahmgelegt werden. Wie gefährlich sind solche Reaktionen?

   

Mein Ko-Autor Erich Vad hält sie für gefährlich. Ich glaube, auf beiden Seiten besteht gegenwärtig noch die Einsicht, dass eine militärische Auseinandersetzung riskant und nicht wünschbar ist. Andererseits könnten die Amerikaner einen Krieg in Europa führen, ohne dass in New York auch nur eine Fensterscheibe klirrt. Es ist meine These seit langem: Wir Europäer befinden uns in der Hand einer uns angeblich sichernden Macht, die selber erklärt hat: Unser (der US-amerikanische) Atomschirm gilt für Euch nicht. Henry Kissinger hat mal gesagt, man werde doch das Leben einer Frau in Kansas nicht wegen des Lebens einer Frau in Hamburg riskieren. Joe Biden betonte 2022, die USA würden sich nur mit Atomwaffen wehren, wenn sie selber damit angegriffen würden. Das schließt den präventiven Erstschlag aus. Das will, meine ich, keine Seite, weil sie weiß, dass sie selber dann untergehen würde.

   

Folgt daraus die Notwendigkeit eines eigenen europäischen Atomschirms, der immer wieder diskutiert wird? Frankreich bietet Teilhabe an seinem Arsenal an.

   

Die Franzosen werden doch nicht Paris wegen Warschau riskieren, oder? Die Atombombe ist, wenn sie eingesetzt wird, zugleich eine Selbstmordwaffe. In der Zeit von Helmut Schmidt habe ich bei einem Nato-Manöver erlebt, dass die einzigen, die damals Nuklearwaffen eingesetzt haben, die Amerikaner waren. Sie haben deutschen Boden verseucht, um die Russen zu stoppen und sie am Durchmarsch zu hindern.

   

Reicht es nicht,  die Unsicherheit über einen möglichen Einsatz aufrechtzuerhalten? Schließlich gibt es ja auch US-Atomraketen in Deutschland.

   

Ja, aber die befinden sich dort einzig zum Schutz der USA, um die Anflugzeit nach Russland zu verkürzen. Russische Raketen müssen eine deutlich längere Flugstrecke zurücklegen, um in die USA zu gelangen.  

   

Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius, der zu Ihrer Partei, der SPD, gehört, aber auch Militärs und der Bundesnachrichtendienst (BND) warnen immer wieder vor einem Angriff Russlands auf ein Nato-Land spätestens 2029. Andere Experten prophezeiten schon in diesem Jahr den letzten friedlichen Sommer. Wie realistisch ist das?

   

Man kann Rüstung forcieren, indem man Angst erzeugt. Ich halte das auf jeden Fall und nach allen Kenntnissen, die ich habe, für einen Irrtum und für eine Fehleinschätzung. An einem Krieg mit der Nato hat Putin kein Interesse. Er ist auf die Ukraine losgegangen, als diese Mitglied der NATO werden sollte. Das war die hellrote Linie für Russland, von der schon der frühere US-Botschafter in Moskau, William Burns, 2019 geschrieben hat.

   

Es geht nach Ihrer  Meinung nicht um einen Kampf gegen das westliche Wertesystem, sondern  Putin nach wie vor einzig um die Ukraine?

   

Ja und nein: Es geht ihm zum Beispiel um die Frage, ob nach der Loslösung der Ukraine aus dem russischen Machtbereich Sewastopol ein amerikanischer Nato-Hafen werden könnte. Denn die Krim wäre dann ja Teil der Nato. Das war und ist für einen russischen Präsidenten unannehmbar.

   

Die Ukraine und Russland haben aber 2010 einen Vertrag über die Nutzung von Sewastopol für die russische Schwarzmeerflotte bis 2042 abgeschlossen. Daher war die Angst doch eigentlich unbegründet.

   

Für eine politische Strategie ist das historisch eine kurze Zeitspanne. Putin hätte trotzdem ständig zu Hause rechtfertigen müssen, warum die Krim zur Nato gehören werde und dass dort irgendwann US-Kriegsschiffe auftauchen könnten. Mein Ko-Autor schreibt im Buch, er als russischer Generalstabschef hätte genauso gehandelt.

   

Die Lage kann allerdings jederzeit eskalieren. Russland bombardiert gerade heftig Kiew und Umgebung, die Ukraine trägt den Krieg weit auf russisches Territorium hinein, gegen wichtige Infrastruktur. Könnte Russland nicht, wie manche glauben, die Nato in der estnischen Stadt Narwa testen, inwieweit sie bereit ist, ihre Mitglieder zu verteidigen? Moskau könnte behaupten, es schütze dort die russischsprachige Bevölkerung.

   

Das ist kein realistisches Szenario. Alles spricht dafür, dass die Entwicklungen durch den Nato-Gipfel 2008 ausgelöst wurden, als man versucht hat, die Ukraine in die Nato zu bringen. Im Grunde begann es aber wohl schon, als 1997 das westliche Bündnis die osteuropäischen Staaten aufnahm. Bill Clinton wollte das damals unbedingt – obwohl viele bedeutende US-Sicherheitsstrategen vor einem historischen Fehler gewarnt hatten. Er brauche das, um seine Wahlen zu gewinnen, hat er gesagt. Man hat die Politik Roosevelts umgekehrt, der 1945 erklärte, er habe mit der Überlassung Osteuropas an die Sowjetunion das sicherste Europa geschaffen, das es je gegeben habe. Stattdessen wurde durch den Fall der Mauer 1989 der Wall Russlands gegenüber dem Westen in einen Wall des Westens gegenüber Russland verwandelt. Das heißt, die Sicherheitsinteressen Russlands sind dabei unberücksichtigt geblieben.

   

Aber worüber regt sich Russland auf? Die Nato ist, jedenfalls betont sie das ja stets, eine Verteidigungsallianz, die keinen bedroht. Und außerdem gibt es einen Vertrag mit Moskau, wonach die Truppen der Nato in Osteuropa begrenzt wurden.  

   

Russland ist mindestens dreimal vom Westen überfallen worden, von den Schweden, von Napoleon und von Hitler. Es war nicht umgekehrt.

   

US-Präsident Donald Trump glaubte, der Ukrainekrieg ließe sich leicht lösen, weil er ein gutes Verhältnis zu Putin hat. Offensichtlich nicht gut genug. Welche Chancen geben Sie seinen Friedensbemühungen noch? Trauen Sie ihm zu, den Krieg zu beenden?

   

Nein. Weil die Interessen der Beteiligten derzeit absolut unvereinbar sind. Putin will eine neutrale Ukraine, die nicht über Waffen verfügt, mit denen sie Russland angreifen kann, am besten eine wehrlose Ukraine. Und der Westen fordert genau das Gegenteil. Besonders die Europäer wollen eine starke Ukraine, die schon jetzt die mit Abstand erfahrenste Militärmacht auf dem Kontinent ist. In die EU würde sie die Feindschaft mit unserem größten Nachbarn hineintragen. Dann werden wir mit Russland nie wieder in ein vernünftiges Verhältnis kommen können. Dabei ist Russland nicht nur unser größter, sondern vielleicht auch unser gefährlichster Nachbar. Und gerade wenn jemand gefährlich ist, muss man versuchen, mit ihm stabile Beziehungen herzustellen. Da hatte Trump recht, als er im Dezember 2021 mit Putin über die Nato-Mitgliedschaft der Ukraine verhandeln wollte. Joe Biden und Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg wollten das nicht.

   

So wie Sie es schildern, scheint die Lage ausweglos, auf dem Verhandlungsweg etwas zu erreichen. Wo könnten dennoch Kompromissmöglichkeiten liegen?

   

Man muss die russischen Sicherheitsinteressen kennen und berücksichtigen. Das haben wir versäumt. Jetzt herrscht ein blutiger Krieg, den keine der beiden Seiten unter den heutigen Bedingungen beenden kann. Biden war ein Pharisäer und ein schlechter Präsident.

   

Das ist ein hartes Urteil.        

Er musste 2021 wissen, dass eine Ukraine in der Nato eine brandgefährliche Sache war, und er hätte verhandeln müssen.    

   

Sie erwähnen oft Helmut Schmidt, mit dem Sie eng zusammengearbeitet haben. Was würde er, der ja als großer Geostratege galt, denn heute tun, um aus dem Schlamassel herauszukommen?

   

Vor dem Zusammenbruch des Ostblocks hat er gesagt, dass man sich im Falle einer deutschen Wiedervereinigung natürlich nicht nur nach den Interessen der Russen richten könne, aber dass man sie kennen und mit ihnen umgehen müsse. Stattdessen haben wir den Zusammenbruch genutzt, um innerhalb von sieben Jahren alle osteuropäischen Länder in die Nato aufzunehmen.

   

Zählt das Selbstbestimmungsrecht, das Recht, einem Bündnis seiner Wahl beizutreten, nichts?  

   

Wenn Sie in einen Tennisclub eintreten wollen, dann hat der Tennisclub zu entscheiden, ob er sie aufnehmen will. Und wenn Sie sagen, ich will aber trotzdem rein, obwohl ich mit dem Vorstand zerstritten bin, wird man Ihnen sagen: ‚Tut uns leid, aber wir empfehlen Ihnen einen anderen Tennisclub.‘ Es hat niemand ein Recht, in eine Vereinigung oder in eine Verteidigungsgemeinschaft einzutreten, wenn er damit Unfrieden oder Krieg hineinträgt.      

   
Kann man Kompromissbereitschaft auf der russischen Seite erzwingen? Mit wirtschaftlichen Sanktionen, militärischer Stärke und der verstärkten Lieferung von Waffen an die Ukraine?  

Ja, allerdings nur zu einem vorläufigen Waffenstillstand, weil ich von dem Bismarckschen Satz überzeugt bin, dass Russland ein unbesiegbares Land ist. Und das liegt unter anderem an seiner geografischen Größe.
     

Im Buch weisen Sie darauf hin, wie wichtig Kommunikation ist, um erst einmal zu wissen, was Putin eigentlich will. Und dass Deutschland ein hohes Eigeninteresse haben muss, dies zu erfahren, weil es bei einer eskalierenden Auseinandersetzung zum Schlachtfeld werden würde.

Ich nehme es in der Tat unseren deutschen Regierungen und den übrigen EU-Staaten übel, dass sie nicht in Moskau eruieren, warum Putin sich nicht wenigstens auf einen Waffenstillstand einlässt. Wirklich nur, weil er militärisch noch nicht genügend erreicht hat? Ich könnte mir auch vorstellen, dass er keinen Friedensvertrag mit der Ukraine abschließen will, solange sie den Nato-Beitritt in der Verfassung stehen hat. Und es dürfte fast unmöglich sein, Mehrheiten zu finden, um das zu ändern. Aber was will er denn wirklich? Es glauben ja immer nur alle zu wissen.

   

Die meisten Beobachter erklären  die Weigerung mit der Bösartigkeit von Putin, seinem imperialistischen Wahn ….

   

Ich bin mir absolut sicher, dass, würde er heute von der politischen Szene in Moskau verschwinden, die nächste Generation noch härter und nationalistischer wäre als er. Da ist ein ganzes Konglomerat von Nationalisten unterwegs. Putin selber halte ich eigentlich für einen Europäer.

   

Und warum, denken Sie, suchen die Europäer und vor allem die Deutschen nicht den direkten Draht nach Moskau?  

   

Aus Feigheit. Es gibt einen Mainstream in der öffentlichen Meinung, und sich ihm entgegenzustellen – das merke ich ja selber – macht Schwierigkeiten. Das kann politische Karrieren beenden. Es fehlen Leute in der Union mit dem Mut eines Richard von Weizsäcker, der 1965 zur Neuorientierung der Ostpolitik beigetragen hat. Ich gebe aber zu, dass die Situation heute eine andere Qualität hat. Heute herrscht Krieg, den Russland begonnen hat und Putin für ewig ins Unrecht gesetzt hat. Da ist es sehr schwer, den Deutschen zu erklären, dass es für diesen Krieg aus Sicht der Russen ein moralisch begründetes Argument gab. Es trägt aber zum politischen Erfolg     bei, sich immer auch die Interessen der anderen Seite vor Augen zu führen.

   

Und es ist ein wichtiger Grundsatz der Diplomatie, oder? Allerdings kann Diplomatie auch nur so handlungsfähig sein, wie man sie lässt.

   

Diplomatie ist Politik. Wenn man sie nicht als politisches Instrument betrachtet, versagt man in der internationalen Politik. Wir brauchen allerdings meines Erachtens eine andere Ausbildung in der Diplomatie – sehr viel historischer, soziologischer, sehr viel mehr verbunden mit Landeskenntnissen. In einer international vernetzten Gesellschaft ist Diplomatie das wichtigste Instrument. Wenn wir unsere Interessen durchsetzen wollen, dann müssen wir vorher dafür den Boden bereiten.    

   

Sind die Klagen über zu wenig Dialog mit Russland nur nostalgische Anwandlungen von Menschen, die – wie Sie – selber noch den Zweiten Weltkrieg erlebt haben? Ist die Polarisierung in der Diskussion über den Ukrainekrieg auch eine Generationenfrage?

   

Es ist eher eine Frage der Intelligenz. Das bewundere ich an Frau Merkel – wenn man Dinge zu Ende denkt und nicht etwas anstößt, ohne zu wissen, wohin die Kugel rollt. Hat Kanzler Friedrich Merz jemals zu Ende gedacht, wie Europa eigentlich in zehn oder 15 Jahren aussehen soll, wenn man mit Russland in Feindschaft lebt, weil die Ukraine Mitglied der Nato oder der EU ist? Natürlich kann man sagen, dann hätte Putin die Ukraine eben nicht angreifen sollen, das stimmt,  aber dann hätte man eben auch nicht deren Nato-Mitgliedschaft fördern dürfen.

   

Das sehen Sie jetzt aber verkürzt. Putins Forderungen gingen ja über die militärstrategische Frage der Nutzung des Hafens von Sewastopol hinaus. Die Nato-Osterweiterung sollte quasi rückabgewickelt werden. Und in einem vieldiskutierten Aufsatz hat er dem ukrainischen „Brudervolk“, mit dem die Russen seit Jahrhunderten in einem Spannungsverhältnis leben, die Souveränität abgesprochen.  

   

Putin hat wiederholt gesagt, er habe nichts gegen eine selbstständige Ukraine, wenn sie neutral und nicht gegen Russland gerichtet sei. Aber das haben die Amerikaner verhindert.    

   

Gestehen Sie Russland damit eine Art Pufferzone an seinen Grenzen zu?

   

Ich würde zugestehen, dass wir diese Länder nicht benutzen, um sie gegen Moskau aufzustellen. Ich glaube, dass Russland ein sehr verletzbares Land ist. Für die Tiefe seiner Verteidigung hat es sich im Grunde genommen nur die Atomwaffen bewahrt, wissend, dass es diese nicht benutzen kann, weil es selber getroffen wird. Es gibt keine Nuklearmacht, die nicht über eine Zweitschlagskapazität verfügt. Damit wird die Atomwaffe praktisch neutralisiert.  

   

Warum haben es mäßigende Stimmen in der deutschen Ukraine-Debatte schwer und müssen sich als Russland-Verklärer beschimpfen  lassen?  Haben Sie versucht, Ihre Partei von einer anderen Russlandpolitik zu überzeugen?  

   

Ja, habe ich, aber erfolglos. Es gibt eine kleine Gruppe, die auf einem der letzten Parteitage das sogenannte Friedensmanifest vorgestellt hat. Aber das wurde weggestimmt, wenn Sie so wollen. Wir haben auch keine Diskussion im Deutschen Bundestag. Die andere Seite wird nicht gehört. Obwohl vermutlich inzwischen mehr als 50 Prozent der Deutschen dafür sind, mit Putin zu reden.

   

Was würden Sie selber jetzt als erstes machen, wenn Sie die Ukrainekrise lösen müssten?

   

Ich würde als Bundeskanzler alleine und nicht mit irgendeiner europäischen Entourage zu Herrn Trump fahren. Und ihm sagen: ‚Herr Präsident, ich werde demnächst nach Moskau fahren und mit Putin direkt über den europäischen Frieden reden. Wir haben 85 Millionen Menschen in Deutschland. Wir sind die größte Wirtschaftsmacht in Europa, und wir sind dabei, unsere Verteidigungskräfte aufzustocken. Ich möchte mich gerne mit Ihnen abstimmen und die Gespräche im Einklang mit Amerika führen. Aber ich bin verantwortlich für die Bundesrepublik Deutschland. Ich habe meinen Eid auf die Bundesrepublik geschworen und nicht auf Washington. Und ich muss jetzt selber handeln.'  

   

Sie würden nicht auf einen Konsens innerhalb der EU warten?
     

Nein, natürlich nicht. Wie denn? Einen Konsens mit 27 Staaten? Die EU hat auch keine außenpolitische Zuständigkeit.
     

Sie würden sich nicht einmal mit Frankreich und Polen abstimmen?  
     

Doch, selbstverständlich. Ich würde auch innerhalb Europas mit einzelnen Regierungen reden, aber ich würde nicht warten, bis sie alle zustimmen.
     
 

Deutschland muss jetzt vorangehen?
     
Ja, sonst könnte es zu spät sein. Die Europäer sind doch gegenwärtig nicht sehr handlungsfähig. Frankreich wählt eine Regierung für 24 Stunden, dann wird sie wieder abgewählt. Deutschland ist für Deutschland verantwortlich. Deutsche Interessen sind deutsche Interessen. Unser Interesse ist, dass wir nicht in einen Krieg hineingezogen werden und dass wir nicht mehr Abermilliarden in einen Krieg stecken, bei dem nichts herauskommen kann. Russland wird die annektierten Gebiete nicht wieder hergeben. Die Ukraine wird auch weiterhin auf Nato-Mitgliedschaft bestehen.
     

Würden Sie Trump vorschlagen, über die Neutralität der Ukraine nachzudenken?      

Ich würde Tru,p einfach berichten, was ich von Putin gehört habe, und mit ihm überlegen, ob zwischen Deutschland und den USA vielleicht eine Achse der Vernunft gebildet werden kann. Im Grunde genommen müssen wir ja dankbar sein, dass er überhaupt versucht, Frieden in die Region zu bringen. Wer weiß, wer die nächste Regierung in den USA anführt. Wenn Vizepräsident J.D. Vance den Präsidenten Trump ablöst, wird er die Finanzierung der Ukraine vermutlich sofort beenden.
     
 

Sie würden also den alten Draht zu Russland versuchen wiederherzustellen.

   
Also, ich bin ja nicht mehr politisch aktiv und mag es eigentlich gar nicht, sozusagen aus der Westkurve den Spielern unten zuzurufen, mit welchem Fuß sie den Ball spielen sollen. Aber ich wüsste, wenn ich Bundeskanzler wäre, würde ich die Lage selber erkunden und mich nicht darauf beschränken, was Trump mir erzählt.  

   
Sind Sie eigentlich optimistisch oder pessimistisch, was den Ausweg aus den jetzigen Spannungen angeht?  

   

Eher pessimistisch. Denn wenn Trump sich aus der Sache herauszieht, traue ich den Europäern nicht zu, eine vernünftige Politik mit Russland zu machen, weder den Franzosen noch Herrn Merz. Sie sind alle ideologisch aufgeladen, ich traue ihnen keine den Realitäten entsprechende Politik gegenüber Russland zu.

   

Das Buch ist im August im Frankfurter Westend Verlag erschienen. 144 Seiten, ISBN 9783987913365