
Was macht Hoffnung bei der EU? Mit Blick auf die politischen Entwicklungen der letzten Tage kann man nur sagen: erschreckend wenig. Das sich wochenlang hinziehende Tauziehen um die Ukraine-Finanzierung war ein Trauerspiel. Herausgekommen ist ein fauler Kompromiss, der der Ukraine zwar für die beiden kommenden Jahre einen Kredit über 90 Milliarden Euro beschert, abgesichert durch den EU-Haushalt. Doch die osteuropäischen Bremser Ungarn, Slowakei und Tschechien haben erst blockiert und sich dann bei der Finanzierung vom Acker gemacht. Das Modell, Milliarden Euro von Brüssel zu kassieren und sich dann nach Gusto quer zu legen, um eigene Vorteile herauszuschinden, wird weiter Schule machen.
Der Konstruktionsfehler der EU, bei bestimmten Entscheidungen Einstimmigkeit zu fordern, statt es bei einer qualifizierten Mehrheit zu belassen, rächt sich bitter. Die Gemeinschaft wird dadurch quälend langsam, gelähmt und ohnmächtig. In Zeiten der die Geopolitik dominierenden Autokratien USA, Russland und China ist die EU eine immer weiterschrumpfende Bonsai-Union. Der Spott von Kremlchef Wladimir Putin und die Verachtung von US-Präsident Donald Trump ist ihr sicher.
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat die Messlatte enorm hochgelegt und ist an ihren eigenen Ansprüchen gescheitert: „Meine Kommission wird eine geopolitische Kommission sein“, sagte sie zu Beginn ihrer Amtszeit 2019. „Europa muss auch die Sprache der Macht lernen", forderte sie im gleichen Jahr in einer Europa-Rede vor der Konrad-Adenauer-Stiftung in Berlin. „Das heißt zum einen, eigene Muskeln aufbauen, wo wir uns lange auf andere stützen konnten – zum Beispiel in der Sicherheitspolitik. Zum anderen die vorhandene Kraft gezielter einsetzen, wo es um europäische Interessen geht." Die frühere deutsche Verteidigungsministerin wollte die EU nicht nur zum ökonomischen, sondern auch zum politischen Schwergewicht aufbauen.
Von der Leyen ist als Tiger gesprungen und als Bettvorleger gelandet, könnte man salopp zusammenfassen. Das für die EU demütigende Handelsabkommen mit den USA, das von der Leyen Ende Juli in Schottland mit Trump vereinbart hatte, ist ein Zeugnis der Schwäche. Die Wirtschaftsgroßmacht Europa ist nur noch ein Mythos. Noch schlimmer sieht es in der Geopolitik aus. Bei den großen Konflikten dieser Zeit – ob in der Ukraine oder in Nahost – spielt die EU eine Statistenrolle.
Wie sehr sich die Gemeinschaft selbst im Weg steht, zeigt das Hickhack um das Freihandelsabkommen mit den Mercosur-Staaten Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay. Nach 26 Jahren (!) Verhandlung sollte der Vertrag eigentlich Ende Dezember unterzeichnet werden. Der Akt wurde in letzter Minute abgeblasen. Die Regierungen in Frankreich, Italien, Polen und Ungarn – sie bilden eine Sperrminorität – haben ein Veto eingelegt, weil sie Angst vor den Protesten ihrer Landwirte haben. Die Bauern fürchten, durch Billigimporte aus Südamerika überrollt zu werden. Eine unbegründete Panikreaktion, denn die europäischen Agrarunternehmen wären durch Quoten, Übergangsfristen und im Extremfall auch Zölle geschützt. Das viel größere Risiko tragen die lateinamerikanischen Länder, die ihre schwach entwickelten Industriemärkte für die viel produktivere Konkurrenz aus der EU öffnen müssen.
Europa hat sich mit nationalstaatlicher Kleingeisterei auf offener Bühne blamiert. Die EU hat die Chance vermasselt, ein Zeichen der Stärke zu setzen. Während Trump dem regelbasierten Welthandel mit seiner Zollkeule den Krieg erklärt, hätten die Europäer dem eine positive Alternative entgegensetzen können: einen gemeinsamen Markt mit über 700 Millionen Verbrauchern und einer Wirtschaftsleistung von insgesamt mehr als 22 Billionen Euro. Nach Berechnungen der Brüsseler Kommission könnten die jährlichen EU-Exporte nach Südamerika mit dem Mercosur-Abkommen um bis zu 39 Prozent wachsen. Während die Europäer unter anderem Autos und chemische Produkte über den Atlantik exportieren, liefern die Mercosur-Länder hauptsächlich landwirtschaftliche Produkte und Rohstoffe.
Ein Mercosur-Abschluss wäre ein Signal, das die EU in Richtung USA und China setzen könnte – den Weltmächten, zwischen denen die Europäer gerade zerrieben zu werden drohen. Die europäische Politik hat für die eigenen Unternehmen den Schlachtruf des „de-riskings“aufgerufen. Die Abhängigkeit von China und Amerika sollte vermindert werden zugunsten der Suche nach neuen Märkten. Nun torpediert der europäische Staaten-Club diesen Kurs der Diversifizierung durch seine Mercosur-Blockade. Die Neinsager müssen sich vorhalten lassen, die Zeichen der Zeit nicht zu erkennen. Sie bewegen sich offensichtlich in eindimensionalen Politblasen, die den Blick auf geoökonomische und geostrategische Zusammenhänge versperren. Hinzu kommt die bittere Erkenntnis: Chinesische Firmen sind bereits seit Jahren in Lateinamerika präsent, haben sich den Zugang zu Bodenschätzen und kritischen Mineralien gesichert. Schläfst Du noch oder arbeitest Du schon, Europa?
Die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni spielt nun eine entscheidende Rolle. Sie hat sich zusätzliche Zeit erbeten, um ihre Landwirte in den kommenden Wochen doch noch von Mercosur zu überzeugen. Vielleicht – und mit viel Glück – wird die Sperrminorität am Ende doch aufgehoben und das Abkommen im Januar in Paraguay unterzeichnet. Doch der immense Image-Schaden Europas bleibt. Die Gemeinschaft bewegt sich im Schlafwagenmodus.
Europa steht vor Herausforderungen wie seit 80 Jahren nicht mehr. Die EU wurde als Friedensprojekt gegründet, um den Kontinent nach zwei vernichtenden Weltkriegen als Staatengemeinschaft zusammenzuschweißen. Heute bedürfte es eines ähnlichen Quantensprungs. Europas Wirtschaft bräuchte eine Initialzündung der Innovation, um auf dem rau gewordenen Weltmarkt bestehen zu können. Ohne Stärkung der Unternehmen durch wettbewerbsfähige Energiepreise und weniger bürokratische Gängelung wird es aber keinen neuen Aufschwung geben. Ein Sozialstaat ohne robustes Wirtschaftswachstum ist nicht finanzierbar. Europäische Schlüsselländer wie Großbritannien, Frankreich oder Deutschland haben es nicht hinbekommen, große Sozialreformen bei der Renten- oder Krankenversicherung aufs Gleis setzen.
Wenn die Parteien der politischen Mitte nicht die Wende schaffen, profitieren Rechtspopulisten. Das ist die neue Bedrohung für Europa. In Großbritannien liegt die rechtspopulistische Reform UK rund um den Brexit-Schreck Nigel Farage in allen Umfragen vorn. Er geht mit dem Generalthema Abschottung und Abschiebung hausieren. In Großbritannien wird zwar erst 2029 gewählt. Doch die Sorge ist da: Bei einem Sieg der Reform UK wäre Großbritanniens Wiederannäherung an die EU passé – die Teilnahme an einer „Koalition der Willigen“ Geschichte.
Die gleiche Gefahr droht in Frankreich. Die zweitgrößte Volkswirtschaft Europas kommt nicht in die Gänge, die schnell wechselnden Regierungen taumeln von Haushaltskrise zu Haushaltskrise. Auf der Welle der Unzufriedenheit reitet der rechtsextreme Rassemblement National (RN) von Marine Le Pen und Jungstar Jordan Bardella. Der Themenmix Migrations-Stopp und EU-Kritik sowie der Sturmlauf gegen die politische Mitte reichen, um den RN an die Spitze der Umfragen zu katapultieren. Mit dem nicht enden wollenden Absturz der Popularität von Präsident Emmanuel Macron steigt die Wahrscheinlichkeit, dass nach den Wahlen 2027 entweder Bardella oder Le Pen im Elysée-Palast sitzt. Es wäre das Aus für die deutsch-französische Freundschaft und das Ende der EU, wie wir sie kennen.
In Deutschland haben die Parteien der Mitte 2026 die – vielleicht letzte – Chance, das Ruder herumzureißen. Die Landtagswahlen in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz, Sachsen-Anhalt, Berlin und Mecklenburg-Vorpommern sind ein Bewährungstest. In Sachsen-Anhalt und in Mecklenburg-Vorpommern kommt die rechtspopulistische AfD in Umfragen auf rund 40 Prozent. Mit Forderungen wie „Remigration“und EU-Austritt, angereichert durch Untergangsstimmung und Verteufelung der politischen Eliten hat die Partei ihren Stimmenanteil in vielen Bundesländern drastisch erhöht.
All dies sind Anzeichen höchster Beunruhigung. Es reicht nicht mehr, Weckrufe Richtung Brüssel loszulassen – zu viele sind ungehört verhallt. Die Risse in der EU werden immer tiefer, was zuletzt der Eiertanz beim Mercosur-Abkommen gezeigt hat. Wenn die Alarmzeichen weiter ignoriert werden, ist ein Zerfall der Gemeinschaft nicht mehr aufzuhalten.